23.10.2014
Lieber Herr Dressel,

Sie antworten oft, wie wichtig es ist, fühlende Menschen kennenzulernen, damit man sich seiner Situation besser bewusst wird. Doch ich habe die größten Schwierigkeiten damit. Ich lerne sie nirgends kennen. Was kann ich tun? Sie sagen auch, wie wichtig der nahe zwischenmenschliche Kontakt ist. Ich kann jedoch den nahen zwischenmenschlichen Kontakt gar nicht aufbauen. Leider stoße ich nur auf Menschen, die mit Arbeit und ihren Problemen so zugepackt sind, dass sie gar nicht fähig sind, einen zwischenmenschlichen Kontakt aufzubauen. Trotzdem haben diese Menschen meistens einen Partner. Ich frage mich dann, wie kann das funktionieren? Sie scheinen sich daran von Kind an gewöhnt zu haben, einander vorbei zu leben und das als die selbstverständlichste Sache der Welt anzusehen. Mir bleiben eigentlich nur Bücher. In Buchform stoße ich ab und zu auf fühlende Menschen. Mich würde es sehr glücklich machen, wenn ich fühlende Menschen aus Fleisch und Blut kennenlernen würde. Aber das stellt sich für mich als ein unerreichbares Ziel heraus. Wie haben Sie denn fühlende Menschen kennengelernt?

Herzlichen Gruß

K.M.

MD: Ihr Leserbrief verdeutlicht ein großes Problem innerhalb einer „Mangelmutantengesellschaft“. Ich habe dieses Dilemma in meinem Artikel Die Befreiung von dem, was unser Leben vermiest beschrieben. Leider leben wir in einer Gesellschaft, die aus lauter beschwerten Menschen besteht. Und diese Gesellschaft entsteht wegen der allgemein üblichen desaströsen Erziehungspraxis. Natürlich gibt es immer Ausnahmen. Doch diese Ausnahmen kennenzulernen, stellt sich meistens als ein unerfüllbarer Wunsch heraus. 

 

Mir ergeht es eigentlich ähnlich wie Ihnen. Darum gehe ich meistens wie ein kleines Kind vorbehaltlos auf Menschen zu und lasse die zwischenmenschlichen Begegnungen sich so entwickeln, wie sie es dann eben tun. Es muss natürlich irgendwann sehr frustrierend sein, wenn sich zwischenmenschliche Begegnungen niemals zu einer konstanten Bindung entwickeln. Man bleibt allein in der niederschmetternden Frustration stecken. Denn man kann sein Leid noch nicht einmal jemandem mitteilen, der es mitfühlend begreifen würde. Das muss doppelt frustrierend sein und ist letztlich der Galgenpreis, den fühlende Menschen gezwungenermaßen zahlen müssen innerhalb einer „Mangelmutantengesellschaft“.

 

Ist es wirklich so schlimm? Ja, es ist wirklich so schlimm! Dennoch hört der fühlende Mensch deswegen nicht auf zu fühlen. Er kann einfach nicht anders und ist deshalb stets bereit, sich auf zwischenmenschliche Bindungen einzulassen, sobald sich dafür Chancen ergeben.