22.05.2013

Hallo,              
ein lieber Mensch hat mir geraten über meine Gefühle zu schreiben. Ich überlegte, dann fiel es mir wieder ein. Ich hatte es vergessen-verdrängt? Etwas ,was in meiner Kindheit ( ungefähr mit 10 Jahren) passiert ist. Wir sind 3 Geschwister ich bin die mittlere ,hatten eine schöne  und behütete Kindheit. Wenn meine Eltern arbeiten waren passte ein Onkel auf uns auf, er war nett, spielte  mit uns und machte Essen. Irgendwann, wir machten eine Kissenschlacht, dann schickte er meine Geschwister aus dem Raum. Er schloss die Tür und zog mich auf seinen Schoss. Er wurde nie richtig Intim, aber seine Hände- Finger waren an meinem Körper ,wo sie nicht hätten sein sollen. Ich weiß heute nicht mehr wie oft es passiert ist, aber irgendwann kam mein Vater früher von der Arbeit und erwischte ihn. Was ich damals gefühlt habe ich weiß es nicht. Aber ich frage mich, wie man so etwas vergessen kann?
Herzliche grüße 

A.M.   

MD: Sie haben es vergessen, weil Sie nicht zu Ihren Gefühlen finden. Aber dass Sie nicht zu Ihren Gefühlen finden, liegt nicht an Ihnen. Erst wenn Sie Kontakt mit fühlenden Menschen haben und sich denen anvertrauen, dann werden Sie imstande sein, sich in das kleine Mädchen zu versetzen, das die verdeckten sexuellen Wünsche des netten Onkels nicht durchschauen konnte. Weil Sie Onkel und Vater bewusst in guter Erinnerung haben, können Sie die unschönen realen Fakten und die damit verbundenen Gefühle nicht richtig erinnern. Das muss doppelt grausam für Sie sein. Darum schlage ich vor, Sie versuchen sich zunächst konkreter zu erinnern, was Ihren Verdacht angeht.

 

27.5.2013

Sehr geehrter Herr Dressel,

Sie schreiben, die Eltern hätten letzten Endes Schuld. Aber die Eltern handeln ihrerseits aus einem Wiederholungszwang heraus. Sie wurden selbst schlecht behandelt. Deswegen kann ich sie nicht als böse bezeichnen. Liegt es wirklich nur an den Eltern? Was ist mit Verwandten, Freunden, Schule usw. Machen Sie es sich nicht zu einfach in Ihren Analysen?

Mit freundlichen Grüßen

G.D.

MD: Merken Sie nicht, wie Sie ausschließlich die Perspektive der Eltern einnehmen? Aus deren Sicht haben sie ihren Kindern nie etwas Böses angetan. Die Kinder waren die Bösen.Sie mussten deshalb auf den richtigen Weg gebracht werden mithilfe von Verboten, Hausarresten, Schlägen.

 

Ihre Eltern durften Sie als Kind offenbar nie beschuldigen, darum sind sie noch heute für Sie keine Schuldigen. Doch hat jede Lebensgeschichte ihren Anfang. Am Anfang stehen für jedes Kind die Eltern. In der primären zwischenmenschlichen Bindung erlernen wir alle das Rüstzeug für das spätere Leben. Wenn Eltern ihr Kind schlecht behandeln, dann machen sie sich selbstverständlich schuldig. Und diese Schuld ist die schwerste. Sie ist das Urübel für sämtliche menschliche Abgründe.

 

Bedenken Sie Ihre Argumentation noch einmal von Anfang an. Wenn Eltern aus einem Wiederholungszwang heraus handeln, dann hatte dieser seinen Ursprung in deren Kindheit.

 

Was in den Beziehungen zu Verwandten, Freunden und Lehrern geschieht, hängt maßgeblich davon ab, welches Rüstzeug das Kind von seinen Eltern mitbringt. Hat ein Kind die Möglichkeit, positive Erfahrungen in den Beziehungen außerhalb des Elternhauses zu machen, bewirken diese natürlich eine positiv veränderte Lebenseinstellung. Die positiven Erfahrungen außerhalb des Elternhauses führen allerdings nicht automatisch zu sozialadäquatem Verhalten, denn das, was im derzeitigen Zustand unserer Gesellschaft als sozialadäquat gilt, entspricht meistens nicht der menschlichen Natur.

 

Am Anfang des Lebens muss alles aus der Sicht des Kindes gesehen werden. Es hat nämlich noch keine Vorstellung davon, was ihm Böses durch seine geliebten Eltern widerfahren kann. Sein Vertrauen zu ihnen ist absolut. Darum sind die Eltern gegenüber ihrem Kind uneingeschränkt verantwortlich, egal was sie in der eigenen Kindheit durchgemacht haben. Weil aber unsere Gesellschaft genau anders funktioniert und die Eltern stets entschuldigt, wiederholt sich das Böse von Generation zu Generation.