Die Befreiung von dem, was uns das Leben vermiest

Jedes Lebewesen unseres Planeten bringt von Natur aus alles mit, damit es unbeschwert leben kann. Die möglichen Erschwernisse kommen anfänglich niemals von innen, sondern immer von außen. Erst wenn die von außen auferlegten Erschwernisse als etwas Normales eingeübt werden, dann sind sie für uns Menschen auch als etwas Inneres wahrnehmbar. Das liegt daran, dass dasselbe Hirnareal sowohl für die inneren als auch für die äußeren Bilder zuständig ist. Und genau das kann für uns Menschen hoch problematisch sein.

 

Sogenannte innere Bilder beruhen idealerweise auf vormaligen, lebensbejahenden Erfahrungen. Sie können in bedrängnisvollen Ausnahmesituationen Erleichterung verschaffen. Sobald jedoch die bedrängnisvollen Ausnahmesituationen anfangen, den Normalzustand zu dominieren, kann der Mensch nicht mehr das unbeschwerte Leben führen. Damit er aber dem beschwerten Leben nicht zum Opfer fällt, muss er die Erschwernisse mithilfe seiner angeborenen Emotionen und Gefühle als Gefahr erkennen und sich von ihnen abwenden können. Doch wenn ihm als abhängiges Kind eingeredet wird, es seien gar keine Erschwernisse, sondern Erfahrungen zu seinem Besten, dann hören die angeborenen Emotionen und Gefühle auf, seine genuine Orientierung auszumachen. Und wer redet ihm diesen verlogenen Irrsinn ein? Seine über alles geliebten Eltern, denen er vorbehaltos vertraut. Er übernimmt auf diese Weise völlig unreflektiert deren Verlogenheit.

 

Doch die von außen aufgepfropfte Orientierung, die anstelle der genuinen tritt, beruht auf einer illusionären Grundlage, weil die zum Normalfall gewordenen bedrängnisvollen Ausnahmesituationen in Gestalt des zermürbenden Machtgefälles zwischen Eltern und Kind in gute Erfahrungen umgedeutet werden. Und weil die inneren Bilder sich nicht von illusionären und wahrhaftigen unterscheiden, lässt der menschliche Körper sich so lange etwas vormachen, als er pausenlos mit illusionären Informationen gefüttert wird. Kommt die pausenlose Fütterung durch irgendeinen Umstand zur Unterbrechung, merkt der Körper das sofort. Da er es inzwischen gewohnt ist, dass ihn die Fütterung mit illusionären Informationen künstlich am Leben hält, wird ihm bei einer Unterbrechung sinnbildlich der Boden unter den Füßen weggezogen, denn er steht schon lange nicht mehr auf eigenen Beinen. Er kollabiert und sendet pathologische Zeichen nach außen, die das Abbild der erfahrenen Erschwernisse widerspiegeln. Sein psychisches Gleichgewicht hat er schon längst verloren. Die angeborenen Emotionen und Gefühle haben aufgehört, ihm die lebensnotwendige genuine Orientierung zu verschaffen.

 

Doch Hilfe von außen kann er schwerlich finden, denn die pathologischen Zeichen, die er nach außen sendet, werden von den anderen Menschen gründlich missverstanden. Die anderen Menschen, die die pathologischen Zeichen gründlich missverstehen, sind Ärzte, Therapeuten, Psychiater usw. Sie versuchen etwas zu reparieren", obwohl sie gar nicht wissen, weshalb sie eine „Baustelle" vorfinden und worin eigentlich der „Schaden" besteht. Auch diese Menschen leben aufgrund ihrer desaströsen Lebensgeschichte von ihren angeborenen Emotionen und Gefühlen abgetrennt, weswegen sie nur das anwenden können, was sie fleißig in den Universitäten oder Ausbildungsstätten erlernten. Sie erlernten prothesenhafte Konzepte, die die abgetrennten Emotionen und Gefühle zu ersetzen versuchen. Nur in Ausnahmefällen können diese Menschen helfen, wenn sie tatsächlich von ihren angeborenen Emotionen und Gefühlen geleitet werden. 

 

Betrachten wir den menschlichen Lebensbeginn aufmerksam, erkennen wir sofort das dem Leben von Natur aus Innenwohnende. Die Biologie des Lebens sucht sich instinktiv die Nahrung, die ihre Existenz niemals in Frage stellt. Findet sie stattdessen vorwiegend vergiftete Nahrung, wird ihr Fundament zerstört. Das Leben zerfällt und geht nach und nach jämmerlich zugrunde. Mit diesen wenigen Worten habe ich das normale menschliche Leben im Zeitraffer dargestellt, wenn es nicht die notwendige Zuwendung, nicht die einfühlsame Fürsorge, nicht die Erfüllung von lebensfördernden Bedürfnissen bekommt.

 

Wir Menschen können am Lebensanfang nur durch die Fürsorge unserer Eltern überleben. Ohne sie oder einen adäquaten Ersatz sterben wir. Als adäquater Ersatz kann für eine gewisse Dauer auch funktionelle Nahrung dienen. Diese Nahrung besteht aus dem Erlernten, was sozialadäquates Handeln ausmacht innerhalb einer Gesellschaft, die aus lauter beschwerten Menschen besteht. Sie soll dazu dienen, sich unter beschwerten Menschen zurechtzufinden. Auf Dauer muss der menschliche Körper unter der funktionellen Nahrung sehr leiden, weil sie sich früher oder später als giftig erweist. Ihr fehlt es an den oben erwähnten lebenswichtigen Inhalten wie warme zwischenmenschliche Zuwendung, einfühlsame Fürsorge, Erfüllung von lebensfördernden Bedürfnissen. Die eingefrorenen Eltern, die ihr Kind mit funktioneller Nahrung füttern, verbieten ihm gleichzeitig den Ausdruck seiner authentischen Emotionen und Gefühle. Diese müssten ihnen eigentlich unmissverständlich mitteilen, dass die von ihnen verabreichte funktionelle Nahrung giftig ist. Doch die Eltern verkaufen ihrem Kind diese als Fürsorge und Liebe, welche sich in Wirklichkeit als giftig erweist Das Kind kann sich deshalb nicht lebenszugewandt weiterentwickeln. Die inzwischen erwachsen gewordenen Kinder halten es infolgedessen für völlig selbstverständlich, wenn sie früher oder später erkranken. Sie merken nicht, was sie krank gemacht hat. Die lebensvergiftenden Erschwernisse aus der frühen Lebensgeschichte halten sie für das Selbstverständlichste der Welt.

 

Genau hier liegt der Ursprung für die Verdrehung der Fakten und die Verlogenheit unter uns Menschen, weil das Böse in der Maske des Guten auftritt. Einige Menschen verstehen es, mithilfe ihrer Verlogenheit und ihres enormen Anpassungsgeschicks aus dem Bösen großes Kapital zu schlagen, selbstverständlich nur für sie selbst und auf Kosten ihrer Mitmenschen. Sie wiederholen blind das, was ihnen ihre eingefrorenen Eltern beibrachten: Nur der rücksichtslose, auf sich selbst bezogene Mensch könne gut leben. Für solche Menschen erscheint das Leben wie ein nie endender Kampf, dem sie sich stets siegreich stellen müssen. Mit oberflächlich schön wirkenden Masken verdecken sie ihre leblosen Antlitze. Sobald sie sich diesem Kampf nicht mehr siegreich stellen können, fallen sie in sich zusammen. Es verbleibt eine leblose, zerplatzte Hülle. Auf diese Weise offenbart sich der vernichtende Preis, den das Zerstörungswerk ihrer Eltern fordert.

 

Wenn wir uns von den unfreiwillig auferlegten Erschwernissen befreien wollen, die uns das Leben vermiesen, müssen wir erst einmal erkennen, wie die Bindung zu unseren Eltern wirklich ist. Erst wenn wir das Grauen fühlen, das unsere Eltern uns antun, können wir uns von ihm lösen. Wir begreifen, dass unsere bedingungslose Liebe zu ihnen in eine nicht gewollte, lebensverachtende Sackgasse führt. Wir wollen nicht mehr länger von dem gefangen sein, was uns das Leben vermiest. Die Befreiung von den Erschwernissen bringt uns wie von selbst die Leichtigkeit in unser Leben, die es uns ermöglicht, unsere wertvollen menschlichen Anlagen weiterzuentwickeln. Damit nehmen wir Kontakt mit unseren wahren Bedürfnissen auf. Intuitiv konzentrieren wir uns auf die lustvollen Dinge des Lebens. Lustvoll bedeutet, Spaß und Freude zu haben. Schon bald merken wir, dass ein gemeinschaftliches Erleben der Lust uns noch viel mehr Spaß und Freude bereitet. Wir wissen, was uns allen gut tut. Die Leichtigkeit des unbeschwerten Lebens eröffnet uns Räume, wo wir unermesslich viel gemeinsames Vergnügen erleben. Wir erschaffen Dinge, die sinnvoll für uns alle sind. Weil wir miteinander verbunden sind, entsteht eine Gemeinschaft, in der die gegenseitige Unterstützung ganz selbstverständlich ist. Wir lassen niemanden im Stich, da wir fühlen, wie gut es tut, wenn der andere zu uns steht.

 

Vielleicht erwachen unsere Eltern eines Tages zum Leben, weil wir sie mit unserer wiedergewonnenen Lebensfreude anstecken. Sie werden erkennen, wie sie uns mit ihrem lieblosen Verhalten geschadet haben. Ihre aufrichtige Reue und ihr aufrichtiger Schmerz darüber, dass sie uns nicht das geben konnten, was für ein glückliches Leben notwendig gewesen wäre, rückt die Beziehung zu ihnen gerade.

 

Wir werden unsere eigenen Kinder mit Einfühlungsvermögen, Fürsorge und Freude behandeln, denn sie sind unsere größten Schätze. Sobald unsere Kinder erwachsen sind und den Normalzustand der Menschheit ausmachen, leben wir endlich in der Welt, welche für uns wirklich die schönste ist.

 

© Michael Dressel 1/2011