Amoklauf in Emsdetten

Warum herrscht so viel Verwirrung und Unverständnis unter den Menschen, wenn es darum geht, sich in einen Mitmenschen einzufühlen? Der von der Tageszeitung Bild unmittelbar nach dem Amoklauf von Sebastian B. befragte Psychologe demonstriert, wie sehr er sich an seine angelernten Schemata klammert. Im Grunde kann er nichts Aufklärendes sagen und faselt stattdessen von einem Drehbuch. Dabei bleibt er die Antwort schuldig, wieso ein Drehbuch mit dem Inhalt eines Amoklaufs geschrieben und Wirklichkeit werden konnte. Und wieso wird von der Bild ein „blinder“ Psychologe zu einem so brennenden Thema, das uns als gesamte Gesellschaft angeht, befragt?


Wir fallen nicht als Monster vom Himmel, denn sonst wäre die Menschheit schon bereits in ihren Anfängen ausgestorben, weil wir uns alle gegenseitig umgebracht hätten.
Wenn im Forum von „keinmensch.de“ gesagt wird, „das mit seinen [Sebastian Bs.] Eltern sei völlig an den Haaren herbeigezogen“ und sie hätten möglicherweise „von den Problemen ihres Sohnes nichts gewusst“, dann drückt sich in solchen Sätzen die insgeheime Not vieler Jugendlicher aus, dass ihre Wut weder von ihnen selbst noch von ihren
 Eltern richtig wahrgenommen und verstanden wird.

 

Wo werden wir denn alle groß? Im Regelfall bei unseren Eltern. Wie kann es sein, dass diese über die Befindlichkeiten ihres Kindes nichts wissen? Das kann nur dann der Fall sein, wenn das Kind sich seinen Eltern nicht mitteilen kann, weil sein Vertrauen zu ihnen zutiefst erschüttert ist. Am Beispiel von Sebastian B. versuche ich in verständlichen Worten die Ursachen aufzuzeigen, warum das Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Kind zutiefst erschüttert ist. 

 

Wir bringen von Geburt an alles mit, damit wir unser Leben gemeinsam mit unseren Mitmenschen produktiv gestalten können. Das gilt universell für jedes Lebewesen. Das schließt selbstverständlich das Urvertrauen zu unseren Eltern mit ein, da wir ohne deren Fürsorge am Anfang des Lebens nicht lebensfähig wären.

 

Wir Menschen verfügen über etwas ganz Wundervolles, unser immenses Gefühlspotenzial. Unser immenses Gefühlspotenzial ermöglicht uns vor allem, in andere Menschen einzufühlen. Doch es kann auch zu einem großen Unheil prevertieren, wenn wir in unserer frühen Lebensgeschichte überwiegend Vernachlässigung und Gewalt erfahren. Denn unser immenses Gefühlspotenzial ermöglicht uns eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit in jede erdenkliche Richtung. Darum passen wir uns als völlig abhängige Kinder fatalerweise auch dem zerstörerischen Irrsinn unserer Eltern an. Und das erst recht, wenn dieser Irrsinn uns als Erziehungsmaßnahme oder sogar als Liebe verkauft wird. Jedes Kind liebt seine Eltern von Natur aus. Umgekehrt bedeutet die elterliche Liebe für das Kind Spaß, Lebensfreude und Wohlsein. Sind diese grundlegenden Beziehungsinhalte zwischen Eltern und Kind nicht gegeben, so basiert das Leben auf einer Lüge. Der Lüge nämlich, dass Liebe nichts mit Spaß, Lebensfreude und Wohlsein zu tun hãtte. Alle mir bekannten Religionen basieren auf dieser Lüge. Begreiflicherweise muss unter dieser Lüge das Urvertrauen des Kindes zu seinen Eltern empfindlich leiden, da es spürt, dass irgendetwas mit ihnen nicht stimmt. Es hat jedoch am Lebensbeginn noch keine Worte für sein Leid. Trotzdem neigt es dazu, seinen Eltern aufgrund seiner vorbehaltlosen Liebe alles zu glauben. Es denkt im Stillen, sie meinen es schon gut mit mir, es muss an mir liegen. Es kann noch keine Vorstellung davon haben, dass seine Eltern ihm Leid zufügen könnten.

 

Ich beschreibe im Folgenden den verantwortlichen Prozess, der uns zu verwirrten Menschen macht und die geballte Faust in der Hosentasche verstecken lässt.

 

Das Leid, das Eltern ihrem Kind antun, verbrämen sie als gerechte Strafe, weil es angeblich so aufsässig wäre. Der täglich praktizierte Erziehungsterror geschähe angeblich nur zu seinem Besten, damit es einmal ein guter Mensch werde. Die Eltern merken überhaupt nicht, dass sie selbst die Aufsässigkeit ihres Kindes aufgrund ihrer Vernachlässigungen und Übergriffe verursachen. Im Gegenteil, sie machen ihm die Aufsässigkeit sogar noch zum Vorwurf, obwohl diese die absolut angemessene Reaktion auf ihren Erziehungsterror ist. Deshalb wertet das Kind seine genuine gefühlte Wut, die sich in Gestalt seiner Aufsässigkeit ausdrückt, verstandesgemäß als unpassend bzw. als falsch. Es betrachtet seine Eltern als gerechte Peiniger und sich selbst als böses Wesen, das unbedingt die elterliche Missachtung braucht, um ein guter Mensch zu werden. Doch diesen absurden dissoziativen Zusammenhang kann das Kind nicht durchschauen. Nichtsdestotrotz dauert das Gefühl der Wut in ihm unterschwellig fort und muss gegenüber den Verursachern, den Eltern, unterdrückt werden, da diese erklärtermaßen immer richtig handeln. Infolgedessen drückt sich das Gefühl der Wut im abgespaltenen Zustand gegen Ersatzpersonen aus. Während die Eltern den Status der Heiligkeit und Unantastbarkeit erlangen, müssen Ersatzpersonen stellvertetend für das einstehen, was die Eltern an Grausamkeiten ihrem abhängigen, wehrlosen Kind angetan haben. Auf diese Weise setzt sich das an Kindern begangene Grauen von Generation zu Generation fort. Ich verurteile dieses böse Spiel und werde stets einseitig Partei für Kinder ergreifen, da ich nach langer Forschungstätigkeit weiß, dass in ihnen eben nicht von Geburt an der Teufel steckt. Aus vielen wurde jedoch unfreiwillig ein Teufel gemacht. Denn was lernt das Kind aus dem scheußlichen Verhalten seiner Eltern? Es lernt, dass der Schwächere keine Achtung und kein Mitgefühl verdiene. Darum wird es irgendwann selbst zum Teufel und produziert zwanghaft weitere. Mit meinen Zeilen habe ich „Kono“ im Forum von „keinmensch.de“ hoffentlich eine Antwort darauf gegeben, warum er darauf kommen kann, dass immer der Schwächere bluten müsse. Ist es diesbezüglich nicht bestürzend, wenn ein noch sehr junger Mensch resümiert, er selbst werde zum Schwachen, sobald er Mitgefühl für den Schwächeren aufbringe?

 

Zum Fall Sebastian B. will ich zunächst etwas über „Killerspiele“ sagen. Menschen müssen sich nicht per se von ihnen angezogen fühlen. Die Gründe für die Anziehungskraft solcher Gewalt strotzenden Spiele habe ich bereits in meinen Erläuterungen über die gängige Erziehungspraxis vorweggenommen. Sie sind Folge der scheußlichen Erfahrungen in der frühen Kindheit, welche das Mitgefühl für andere Menschen rauben. Das betrifft auch das Mitgefühl für die in den Spielen getöteten virtuellen Figuren. Sebastian B. war begeistert von solchen Spielen. Im Spiel konnte er mit den virtuellen Figuren das reinszenieren, was ihm seine Eltern offensichtlich angetan hatten. Bewusst konnte er sich jedoch an keine elterlichen Übergriffe erinnern. Er erwähnte seine Eltern in den Veröffentlichungen im Internet nur in zwei Fällen: Im ersten Fall hätten sie seinen geliebten Hund zum Arzt gebracht, was er ihnen hoch anrechnete und im zweiten Fall hätte seine „Ma“ in seinen Sachen „herumgeschnüffelt“, was er mit ihrer Besorgnis um ihn rechtfertigte. Er hatte nur das idealisierte Bild seiner Eltern im Gedächtnis. Dagegen stellte er sich selbst als einen unzulänglichen Menschen dar, der nichts zu Wege brächte. Jedoch ist es keineswegs selbstverständlich, dass ein junger Mann, der noch das ganze Leben vor sich hat, ein derart niederschmetterndes Selbstbild von sich selbst hat. Dazu bedarf es ganz bestimmter, schon sehr früh gemachter Erfahrungen. Wie hätte Sebastian B. im Internet sonst folgende Sätze veröffentlichten können:

 

Ich hasse euch und eure Art. Ihr müsst alle sterben!“; „Bevor ich gehe, werde ich euch einen Denkzettel verpassen, damit mich nie wieder ein Mensch vergisst! ... Ich will das sich mein Gesicht in eure Köpfe einbrennt!“; „Ihr habt diese Schlacht begonnen, nicht ich. Meine Handlungen sind ein Resultat eurer Welt, eine Welt die mich nicht sein lassen will wie ich bin.“; „Ich fresse die ganze Wut in mich hinein, um sie irgendwann auf einmal rauszulassen, und mich an all den Arschl**hern zu rächen, die mir mein Leben versaut haben!“; „Niemand darf in mein Leben eingreifen, und tut er es doch hat er die Konsequenzen zu tragen!“; „Wenn jemand stirbt, dann ist er halt tot. Und? Der Tod gehört zum Leben! Kommen die Angehörigen mit dem Verlust nicht klar, können sie Selbstmord begehen, niemand hindert sie daran!“.

 

Die Reaktionen in der Öffentlichkeit auf seine hasserfüllten Äußerungen im Internet belegen, wie weitläufig die Wahrnehmungsverwirrung verbreitet ist. Ausnahmslos jeder in der veröffentlichten Meinung behauptet, Sebastian B. meine damit seine Mitschüler, Lehrer usw., aber auf keinen Fall seine Eltern. Wenn wir uns aber die Eltern als Adressaten der oben zitierten hasserfüllten Äußerungen vorstellen, dann bekommt plötzlich alles einen Sinn. 

 

Um seinen latenten Hass begreifen zu können, wendete er sich einmal an ein Beratungsforum im Internet, wo eigentlich Fachleute vermutet werden sollten, die sich mit den Problemen von Jugendlichen bestens auskennen. Doch ausgerechnet dort stießen seine Anwürfe, die seine Eltern nicht mit einer Silbe erwähnten, auf taube Ohren. Dort ließ man den Dingen einfach seinen Lauf. Hierin offenbart sich der atemberaubende psychologische Analphabetismus: Niemand im Beratungsforum schien den Mechanismus der Verdrängung und dessen Auswirkungen zu verstehen.

 

Kurz zusammengefasst, stellt sich der Mechanismus der Verdrängung folgendermaßen dar: Das betroffene Kind darf die Gefühle des Schmerzes und der Wut, die durch die elterlichen Vernachlässigungen und Übergriffe verursacht werden, weder wahrnehmen noch zum Ausdruck bringen. Sie dürfen deshalb nicht wahrgenommen werden, weil die Eltern durch ihr Verhalten dem Kind zu verstehen geben, es brauche die Vernachlässigungen und Übergriffe als erforderliche Erziehungsmaßnamen, damit es ein besserer Mensch werde. Insofern kann das Kind aus der Sicht der Eltern keinen Grund haben, wütend auf sie zu sein. Sie verdrehen damit die Tatsachen, womit sie die Wahrnehmungsfähigkeit ihres Kindes sabotieren. Zugleich darf das Kind auch nicht die Gefühle der Wut und des Hasses gegenüber seinen Eltern ausdrücken, denn der Ausdruck seiner Gefühle würde sie unmissverständlich darauf aufmerksam machen, wie sie wirklich mit ihm umgehen. Da sie aber davon überzeugt sind, nur Gutes zu tun, nehmen sie die Gefühle ihres Kindes nicht ernst und ignorieren sie. Die Eltern wollen nichts darüber wissen, dass ihr Kind in Wirklichkeit überhaupt kein schlechter Mensch ist. 

 

Das Resultat einer solchen dissoziativen Erziehungspraxis kann häufig ein völlig anderes sein, als das von den Eltern ursprünglich erstrebte. Zunächst wird das Kind die Vernachlässigungen und Übergriffe als ein gerechtes Vorgehen auffassen. Darum hält es seine Eltern für gute Menschen und sich selbst für einen bösen Menschen. Insofern deckt sich die Auffassung des Kindes noch mit der der Eltern. Doch was passiert mit der verdrängten Wut? Sie existiert ja weiterhin in ihm. Jetzt passiert etwas mit der Wut, was durchaus dem ursprünglich Erstrebten der Eltern zuwiderlaufen kann, sobald die Sündenböcke, auf die das Kind seine Wut lenkt, nicht mit denen der Eltern übereinstimmen. Für die Entladung seiner Wut findet das Kind nämlich regelmäßig geeignete Sündenböcke. Diese können zuerst als junges Kind hilflose Tiere oder schwächere Kinder, später als Jugendlicher die Umwelt oder andere Personen außerhalb der eigenen Familie und schließlich als Erwachsener die eigenen Kinder oder die ganze Palette sozialadäquater Ersatzobjekte sein. Auf diese Weise finden die Gefühle des Kindes ihren Ausdruck, allerdings in der abgespaltenenen Form, indemi das einst durch seine Eltern erfahrene scheußliche Verhalten minutiös an den gefundenen Sündenböcken reinszeniert wird. Doch gelten aus der Sicht der Eltern die vom Kind gefundenen Sündenböcke regelmäßig als nicht passend. Denn die allgemein üblichen Sündenböcke stehen dem Kind im Gegensatz zu seinen Eltern noch gar nicht zur Verfügung. Es hat nämlich noch keine eigenen Kinder, auf die es seine Wut unbeschadet auslassen könnte. Deswegen heißen die Eltern es für völlig unpassend, wenn ihr Kind die Wut an schwächeren Kindern auslässt. 

 

Aber warum muss die Wut herausgelassen werden? Weil sie ein Gefühl ist. Gefühle sind der nach außen ausgedrückte innere Zustand eines Menschen. Man könnte durchaus meiner Aussage entgegenhalten, es gebe auch Gefühle, die man nicht nach außen ausdrückt. Das ist jedoch beim näheren Hinschauen mitnichten der Fall. Denn wenn eine Emotion, die ihren Ursprung in den subkortikalen Arealen des Gehirns hat, sich im Stirnhirn des Neocortexes mit lebensgeschichtlichen Erfahrungen verknüpft und sich auf diese Weise zu einem Gefühl entwickelt, dann hat dieser Prozess immer eine körperliche Komponente. Es kommt nun der somatosensorische Bereich des Gehirns mit ins Spiel. Dieser schafft eine Körperrepräsentation, die das Abbild eines Gefühls ist (vgl. Antonio Damasio). Das kann der in Worten gefasste Gefühlsausdruck sein oder irgendeine körperliche Reaktion, die stellvertretend das jeweilige Gefühl abbildet. Die Körperrepräsentation entspricht den Lebenserfahrungen, die das jeweilige Gefühl erzeugt haben. Insofern drückt sich das Gefühl auch auf der körperlichen Ebene aus. Daraus wird verständich, dass das Gefühl der Wut anfänglich niemals zerstörerisch ist, bevor es die körperliche Ebene erreicht. Wenn es frei ausgedrückt werden darf, ist es der entäußerte innere Zustand. Darum ist es die angemessene, genuine Reaktion auf das Verhalten der Eltern. Der Gefühlszustand des Kindes informiert die Eltern darüber, wie sie tatsächlich mit ihm umgehen. Gefühle verwandeln sich erst dann in zerstörerische Taten, wenn das Kind keinen Ausweg aus dem Wut erzeugenden Anlass findet, wenn es isoliert im Elend steckt ohne die Chance, jemals seine Gefühle den Verursachern oder anderen verständigen Menschen ausdrücken zu können. Die Gefühle verwandeln sich dann in den abgespaltenen Zustand. Das hat zur Folge, dass die gewalttätigen Eltern vom Kind nicht wahrheitsgemäß wahrgenommen werden dürfen. Es kann zwischen ihnen und den erfahrenen missachtenden Übergriffen keinen Zusammenhang herstellen. In seinem Gedächtnis haben die Eltern ihm deshalb nie etwas Böses angetan. Das Gefühl der Wut befindet sich praktisch im Niemandsland. Es erfährt seine völlige Entwertung, da es von niemandem ernst genommen wird, weder von den Eltern noch vom Kind selbst. Die dadurch erzeugte Ausweglosigkeit treibt das Kind zur blinden Tat an Ersatzobjekte oder an sich selbst, weil das nicht ernst genommene Gefühl weiterhin nach Ausdruck drängt. Das Kind kann begreiflicherweise nur das ausdrücken, was es von seinen Eltern erfahren hat. Und das sind in diesem Fall deren scheußlichen Übergriffe. Anstelle des Gefühls agiert es die erlittenen gewalttätigen Übergriffe an Sündenböcken aus. Gleichzeitig entstehen In den Sündenböcken stellvertretend die vom Kind abgespaltenen Gefühle. Hier beginnt oder vollzieht sich die Verdrängung, weil sie erst dann wirksam wird, wenn das Kind durch die elterliche Botschaft, es werde zu seinem Besten misshandelt, grundlegend in seiner Wahrnehmungsfähigkeit verwirrt wird. Es kann deshalb die tatsächlichen Zusammenhänge nicht mehr  wahrheitsgemäß wahrnehmen. Das Gefühl der Wut bleibt stumm in seinem Körper stecken, da es sich nicht frei ausdrücken darf. Es spaltet sich auf diese Weise von den Verursachern, den Eltern, sowie vom aktuellen Bewusstsein ab. Später genügt ein zufälliger Auslöser, der das abgespaltene Gefühl anmahnt und reaktiviert. An dem zufälligen Auslöser, der dann als Sündenbock dient, entladen sich die einst erfahrenen scheußlichen Übergriffe der Eltern. (Hierzu lesen Sie bitte unter Beiträge meine Ausführungen über die Verdrängung).

 

Ganz offensichtlich speiste Sebastian B. seinen latenten Hass aus den oben beschriebenen scheußlichen  Erfahrungen. Er durfte seine Eltern als die Verursacher seiner Wut nicht wahrnehmen. Doch seine Wut war ursprünglich die angemessene Reaktion, die jedoch von seinen Eltern völlig ignoriert wurde. Darum lenkte er seine Wut auf sein soziales Umfeld, womit sie von den Verursachern, seinen Eltern, abgespalten wurde. Die Mitschüler beschrieben Sebastián B. als schüchtern, als jemanden, der nie lachte und immer alleine auf dem Schulhof stand. Das ist geradezu der typische Zustand eines scheußlich behandelten Kindes. Was geschieht nun mit der abgespaltenen Wut? Sebastian B. findet für sie ein Vehikel bei Mitschülern, Lehrern, Punks, Politikern usw. Gegen diese drückt er seine abgespaltene Wut aus, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu einer zerstörerischen Tat herangewachsen ist, sondern sich lediglich in Hasstiraden im Internet zeigt. Wenn ein in seiner frühen Kindheit gedemütigter Mensch nicht die geeigneten Sündenböcke findet oder nicht in der Lage ist, sich welche auszusuchen, weil ihm noch gar keine zur Verfügung stehen oder früh lernte, dass er unumstößlich auf der untersten Stufe der Familienhierarchie steht, dann können sich die zerstörerischen Aktionen, die er durch seine Eltern erfuhr, auch gegen ihn selbst richten. Es hängt zudem entscheidend davon ab, mit welchem Elternteil sich das Kind hauptsächlich identifiziert. Im Falle, dass es sich mit dem allmächtigen Vater identifiziert, der ihm vorlebt, nur der rücksichtslose, Angst und Schrecken verbreitende Tyrann könne gut leben, dann wird es zu dessen Kopie. Es entwickelt dann vorwiegend destruktive Handlungen gegen Sündenböcke. Im Falle, dass es sich mit seiner ohnmächtigen Mutter identifiziert, die ihn als Tröster und Ersatzliebesobjekt missbraucht und an sich kettet, wird es zu deren Kopie. Es entwickelt dann überwiegend autodestruktive Handlungen. Sebastian B. identifizierte sich offenbar mit dem Elternteil, das er in der frühen Kindheit als stark und mächtig erlebte. Er spürte, dass er sich diesem Elternteil bedingungslos unterordnen musste. Er projizierte deshalb seine abgespaltenen und ihm unverständlichen Gefühle der Wut auf die sozialen Kontakte in der Schule. Wie schon erwähnt, wendete er sich wegen seiner Probleme an ein Beratungsforum im Internet. Ich zitiere an dieser Stelle seinen am 26.6.2004 verfassten Beitrag im Forum von beratungsnetz.de:

 

Also erstmal vorweg:
SOLLTE DIESER BEITRAG NICHT DEN BOARDREGELN ENTSPRECHEN, BITTE LÖSCHEN!!!

DAS HIER IST NICHT ALS ANKÜNDIGUNG ODER SCHÖNGEREDE ZU VERSTEHEN!!!

Also Hallo,
...wo soll ich anfangen... vielleicht im 7. Schuljahr: Ich war in eine Klasse, in der ich 3 gute Freunde hatte. Ich bin pappen geblieben.
Dann kam ich in eine andere Klasse, wo die Leute schon was besser waren als vorher. Mit der Klasse machte ich das 7. und das 8. Schuljahr. Im 8. blieb ich wieder pappen.
In der Klasse in der ich jetzt bin ist es einfach scheisse.
Die Kinder sind zur Hälfte kindisch oder Halbstark.
Nur wenige sind in Ordnung.
Aber nun zurück zur 7.(2)Klasse:
Ich denke das der ganze Dreck damit anfing, das einer von der Hauptschule (Ich bin auf real) nach Schulschluss zur unserer Schule kam, und mich schlagen wollte, keine Ahnung warum, vielleicht hat ihm mein Gesicht nicht gepasst, oder ich stand auf seinem Schatten.
Ich habe mich versteckt, seitdem hatte Ich Angst. Diese Angst schlägt so langsam in Wut um. Ich fresse die ganze Wut in mich hinein, um sie irgendwann auf einmal rauszulassen, und mich an all den Arschl**hern zu rächen, die mir mein Leben versaut haben. Ich meine diese "ganz harten", die meinen sie müssten mit 12 in der Ecke stehen und sich zuqualmen. Das sin
d die die immer nur auf die schwächeren gehen können.

Für die, die es noch nicht genau verstanden haben: Ja, es geht hier um Amoklauf!

 

Ich weiss selber nicht woran ich bin, ich weiss nicht mehr weiter, bitte helft mir.

 

Hier kommt die ganze Tragweite seiner hoffnungslosen Ausweglosigkeit an die Oberfläche. Nicht nur er selbst versteht seinen mentalen Zustand nicht, sondern ebensowenig seine Eltern, die Mitschüler, die Lehrer, die vermeintlichen Experten vom Beratungsforum. Das Unverständnis folgt ihm sogar noch bis nach seinem Tod, wie die posthum berufenen Experten in ihren unverständigen Beiträgen belegen. Gerade im Fall von Sebastian B. war zum Zeitpunkt, als er sich an das Beratungsforum wandte, noch gar nicht klar, welchen Ausgang seine Geschichte nehmen würde. Denn er bemühte sich weiterhin darum, seinen inneren Zustand mithilfe anderer Menschen zu verstehen.

 

Einen Tag nach seiner Tat hätte er einen Gerichtstermin wegen unerlaubten Waffenbesitzes gehabt. Denn er besaß illegal eine sehr gefährliche Waffe, die Walther P38, ehemals die Standard-Dienstpistole der Wehrmacht. In seiner Freizeit sammelte er begeistert antike Waffen. Besonders interessierte ihn der Selbstbau von Bomben, deren Bauanleitung er aus dem Internet bezog. Warum hatte er nicht mit der gefährlichen Walther P38 den Amoklauf begangen? Stattdessen begang er ihn mit „Museums-Waffen“, die für jedermann frei zugänglich gewesen wären. Ging es ihm in Wirklichkeit gar nicht darum, andere Menschen zu töten?

 

Er sagte einmal bezeichnenderweise über seinen selbst gewählten Spitznamen folgende Sätze im Internet: „Den Namen 'ResistantX' habe ich mir 2003 oder 2004 zugelegt. 'ResistantX' ist gleichzusetzten mit 'Vergänglichkeit', da alles bis zu einem bestimmten Punkt (X) standhaft ist, aber irgendwann zusammenbricht. Vergänglichkeit ist meiner Meinung nach das Beste, was es auf dieser Welt gibt!“ Mit diesen Worten sprach er unbewusst die in seinem Körper gespeicherten Gewalterfahrungen an, die er oft in seiner frühen Kindheit durch seine Eltern über sich ergehen lassen musste. Auf diese Weise verinnerlichte er schon früh das Machtgefälle zwischen ihnen und ihm. Die Eltern dürften danach ihr schwaches, wehrloses Kind nach Gutdünken misshandeln. Irgendwann käme der Punkt, wo es den elterlichen Übergriffen nicht mehr standhalten könnte. Mit dem letzten Satz verdreht Sebatian B. die Fakten, indem er das Böse verbrämt. Vergänglichkeit, d. h. Zusammenbruch des Kindes, sei das Beste auf der Welt. Doch genau diese Absurdität durfte er nicht wahrnehmen. Niemand war weit und breit vorhanden, seine verbogene Wahrnehmung wieder geradezurücken. Zudem scheint mir sich in seinen Sätzen die grenzenlose Ausweglosigkeit widerzuspiegeln, dass irgendjemand seine Not wahrgenommen hätte. Alle seine verschlüsselten und zum Teil offen formulierten Mitteilungen über seine Qualen wurden von niemandem gesehen. Sie wurden einfach wie Luft behandelt, als ob es sie nie gegeben hätte. Im Grunde war Sebastian B. für seine Eltern als fühlendes Wesen gar nicht existent. Gäbe es sonst einen anderen Grund dafür, dass er stets sein ausdrucksloses Gesicht hinter dunklen Brillengläsern versteckte, auch wenn die Sonne nicht schien? In dieser verschlüsselten Form drückte er aus, dass niemand gewillt war, seinen wirklichen Zustand wahrzunehmen und er zugleich nicht gewillt war, ihn mitzuteilen. Insofern ist es geradezu verständlich, warum er zu einem Einzelgänger wurde, der immer allein auf dem Schulhof stand. Dennoch war eine Zeitung imstande zu schreiben: „Der Emsdettener Amokläufer war ein Einzelgänger, cholerisch und gewalttätig.“ Der Stern weiß überdies zu berichten, er wäre in behüteten Verhältnissen als Sohn eines Postboten und einer Hausfrau mit zwei jüngeren Geschwistern aufgewachsen. Deutlicher kann der Einfühlungsmangel für einen Mitmenschen nicht demonstriert werden. 


Sebastian B. traute sich offensichtlich nur auf indirekte Weise gegen seine Eltern zu rebellieren. Er veränderte seine äußere Erscheinung auf martialische Weise. Er trug, wenn er allein durch Wälder ging, dunkle Gewänder, dunkle Sonnenbrillen, dunkle Kopfbedeckungenen und Waffen. Seine Erscheinung wirkte wie die eines Angst und Schrecken verbreitenden Jãgers. Dazu passend veröffentlichte er kurz vor seiner Tat folgende Sätze: „Bevor ich gehe, werde ich euch einen Denkzettel verpassen, damit mich nie wieder ein Mensch vergisst! ... Ich will das sich mein Gesicht in eure Köpfe einbrennt!“ Seine abgespaltene Wut, die sich in diesen Sätzen ausdrückte und bewusst gegen die Mitschüler gerichtet war, drückte er an anderer Stelle indirekt gegen seine Eltern in Gestalt eines sehr barbarischen Zeichentrickfilm aus. In diesem spielten bezeichnenderweise eine schwarze Figur, er selbst war meistens schwarz gekleidet, sowie ein nackter Mann und eine nackte Frau die Hauptrollen. Ich meine, dass er mit den Figuren sich selbst und seine Eltern darstellte: Die schwarze Figur schießt dem nackten Mann ins Gesicht. Danach wirft sie eine Bombe auf die nackte Frau. Die Bombe explodiert und zerfetzt die Frau. Angesichts der bizarren Darstellung der Szene, könnte man sich fragen, warum der Mann und die Frau ausgerechnet nackt sind. Darauf kann ich keine Antwort geben, weil ich über die konkreten Familienverhältnisse von Sebastian B. nichts weiß. Ich beschränke mich daher auf seine abgespaltene Wut, die er durch sein Verhalten und seine Veröffentlichungen im Internet minutiös mitteilte. Seine abgespaltenen Wut konnte er nur auf indirekte Weise wie im barbarischen Zeichentrickfilm ausdrücken, ohne dabei die Verursacher konkret zu benennen. Da ihm seine Eltern seit jeher ganz offensichtlich als allmächtig vorkamen, lenkte er seinen latenten Hass weniger auf Sündenböcke, sondern vielmehr auf sich selbst. Der Auftritt in schwarzer Kleidung, die Bewaffnung mit einem Gewehr und verschiedenen Bomben, das wilde, ziellose Herumgeballere waren wirksame Signale während seines Amoklaufs, um am Ende seines Lebens wenigstens einmal wahrgenommen zu werden; zwar nicht in seiner Echtheit, sondern als Abklatsch seiner Eltern, wie er sie seit seiner frühen Kindheit erlebt haben musste. Im Übrigen erinnert sein Auftritt in der Schule auf frappante Weise an seinem barbarischen Zeichentrickfilm. Im Zeichentrickfilm richtete er seinen abgespaltenen Hass indirekt gegen seine Eltern und in seinem Amoklauf indessen direkt gegen sich selbst. Am Ende platzte der abgespaltene aufgestaute Hass explosionsartig aus der Einkerkerung seines Unterbewusstseins heraus. Er schoss sich in den Kopf und machte seinem jungen Leben ein jähes Ende. Der Spruch auf dem Kriegerdenkmal des kleinen Friedhofs von Emsdetten bewahrheitete sich auf paradoxe Weise als Ausweg seiner ausweglosen Situation: „Der Tod ist das Tor zum Leben.“

 

Selbstverständlich haben die Mitschüler und Lehrer durch ihr Verhalten die abgespaltenen Gefühle von Sebastian B., die sich zunächst in den Hasstiraden im Internet und dann im Amoklauf ausdrückten, an die Oberfläche gebracht. Aber der von mir beschriebene Mechanismus, der das explosionsartige Herausplatzen seiner abgespaltenen Wut an die Oberfläche möglich machte, wurde von niemandem in seinem sozialen Umfeld verstanden. Die Reaktion eines Lesers von der Wochenzeitschrift Die Zeit belegt, mit welchem großen Unverständnis Eltern ihren Kindern nach wie vor begegnen:

 

Ist es nicht so, daß sich die Lehrer unter die Schüler setzen und an ihren Frechheiten teilnehmen, anstatt sie mit fester Hand zu erziehhen. Und so wird ihre Seele allmählich mürbe, sodaß sie schließlich nicht und niemand mehr über sich anerkennen können. und das mein Freund ist der jugendfrohe Anfang der Tyrannei"
Sicher ist dies keineswegs falsch, aber die beschwichtigenden und beschönigende, aber vor allem tiefgründigen psychologischen Erklärungsversuche, die nur der Schule die Schuld zuschieben wollen, sind ganz gewiß nicht richtig.

-Wer täglich mit Kindern zu tun hat, müsste die Folgen von Inkonsequenz eigentlich aus eigener Anschauung kennen.

- Wir haben die falschen Lehrer? Sorry, nein! Wir haben - wenn schon - die falschen Eltern, Lehrer UND KINDER! [Hervorhebung MD]

 

Ist es von daher nicht verständlich, wie deplatziert sich viele Kinder auf unserer Welt vorkommen müssen? Natürlich kenne ich nicht die Kindheit von Sebastian B., doch er teilte sie uns mit seinem Verhalten und seinen zahlreichen Veröffentlichungen im Internet in ihren wesentlichen Einzelheiten mit.

 

Wenn Sebastian B. die Heucheleien seiner Eltern hätte wahrnehmen können, wäre er nicht dazu verdammt gewesen, seine authentischen reaktiven Gefühle zu verdrängen. Er hätte dann einen Zusammenhang herstellen können zwischen seinen Gefühlen und den Personen, die sie verursachten, seinen Eltern. Stattdessen suchte und fand er andere Personen, die zwar seine verdrängten Gefühle anmahnten und reaktivierten, aber nicht verursacht hatten. Darum konfrontierte er die gefundenen Ersatzobjekte nicht nur mit seinen aktuellen angemessenen, sondern im sehr viel stärkeren Maße mit seinen verdrängten abgespaltenen Gefühlen.

 

Wir alle kennen die Situation, dass ein fremder Mensch in uns manchmal sehr heftige Gefühle auslösen kann, die wir uns nicht erklären können. In dieser Situation vermischen sich aktuelle Gefühle mit alten abgespaltenen Gefühlen aus der frühen Kindheit, ohne dass wir diesen Umstand bewusst wahrnehmen würden. Erst wenn die Heftigkeit unserer Gefühle uns Anlass gibt, darüber zu reflektieren, wem eigentlich die unbewussten, abgespaltenen Gefühle gelten, dann sind wir nicht mehr in Gefahr, sie auf den Menschen, der sie lediglich durch sein Verhalten reaktivierte, blind abzuladen. Wir sind dann auch nicht mehr in Gefahr, gefährliche Übersprungshandlungen auf sozialadäquate Ersatzobjekte auszuagieren.

 

Wäre Sebastian B. zu einer solchen Reflexion imstande gewesen, hätte der Amoklauf in Emsdetten niemals stattfinden können. Stattdessen bedankte und entschuldigte er sich brav bei denjenigen, die ihm etwas bedeutet hätten oder jemals gut zu ihm gewesen wären. Am Vorabend seines Amoklaufs schrieb er in sein Tagebuch: „Dies ist der letzte Abend, den ich erleben werde. Ich sollte glücklich sein, aber irgendwie bin ich es nicht. Es ist wegen meiner Familie. Sie sind alle gute Menschen und ich werde ihnen morgen wehtun. Es ist traurig, dass ich sie nach morgenfrüh nicht mehr wieder sehen werde. Zu denen, die ich liebe, sage ich: Dies alles tut mir so leid.“ Kann das der Abschied eines Amokläufers sein, der vorhat, viele andere Menschen mit in den Tod zu nehmen? Am Ende tötete er nur sich selbst. Bezeichnenderweise schrieb Sebastian B. in sein Tagebuch, er müsse seinen guten Eltern wehtun. Ihm fällt die Widersprüchlichkeit in dieser Aussage überhaupt nicht auf. Er verknüpft wie selbstverständlich das Gute mit dem Bösen. Ihm müssen daher seine geliebten Eltern in Wirklichkeit oft als die Bösen erschienen sein. Sonst hätte er diese widersprüchliche Aussage niemals formulieren können. Liebe und Schmerz gehören für ihn untrennbar zusammen. Und kann der letzte Eintrag in sein Tagebuch wirklich eine Danksagung an seine Eltern sein? Erinnern wir uns daran, als er schrieb: „Wenn jemand stirbt, dann ist er halt tot. Und? Der Tod gehört zum Leben! Kommen die Angehörigen mit dem Verlust nicht klar, können sie Selbstmord begehen, niemand hindert sie daran!“ Hierin sehe ich den abgespaltenen Hass, den er indirerekt gegen seine Eltern richtet. Sie müssen mit dem Tod ihres Sohnes klar kommen. Sein Hinweis, sie könnten Selbstmord begehen, untermauert meine Auffassung hinsichtlich seines abgespaltenen Hasses. Und wie kann jemand glücklich darüber sein, wenn er vorhat, seinem noch jungen Leben vorzeitig ein gewaltsames Ende zu bereiten? Hierin offenbart sich die mentale Verwirrung von Sebastian B., indem er das Böse zwanghaft ins Gute umdeutet. Kommt hier nicht die grausame Tragik an die Oberfläche, dass die ursprünglich angemessene Wut auf die elterlichen Übergriffe am Ende nur im Akt des Selbstmordes symbolisch herausgeschrieen werden kann? Doch verstehen weder die Eltern noch irgendein anderer Mensch die verschlüsselten Botschaften von Sebastian B. So bleibt er noch nach seinem Tod unverstanden.

 

Die sogenannten Experten geben für die Tat von Sebastian B. Erklärungen ab, wie z. B., Amokläufer hätten eine narzisstische Störung oder psychotische Züge oder die Antisozialität sei in der Kinder- und Jugendkultur größer geworden. Die von ihnen vorgeschlagenen Lösungswege aus diesem Dilemma lauten dann folgendermaßen: Es müsse eine Atmosphäre der Ruhe, der Zuwendung und einer wohlwollenden Konsequenz oder Strenge herrschen. Wenn ein Kind mit 6 Jahren nicht gelernt habe, ein Spiel zu Ende zu führen, also keine „Arbeitshaltung“ besitze, sei es in unseren Schulen fehl am Platze, denn Erziehungsmängel dieser Art könnten nicht aufgeholt oder nacherzogen werden. Solche Aussagen veranschaulichen das absolute Unverständnis der Experten gegenüber den Ursachen, warum Kinder und Jugendliche die beklagten Verhaltensweisen aufweisen. Stattdessen flüchten sie sich in Scheinerklärungen. Dabei unterliegen sie stets dem Unvermögen, zwischen Ursache und Wirkung richtig zu unterscheiden. Wie bereits mehrfach erwähnt, bringen wir Menschen von Natur aus alles mit, damit wir miteinander produktiv leben können. Bei den Erklärungen der Experten herrscht dagegen ein völlig gegensätzliches Menschenbild vor, das sie mal mehr oder weniger offen aussprechen: Der Mensch sei von Natur aus asozial, egoistisch, bösartig. Er müsse erst dazu erzogen werden, damit er in der menschlichen Gemeinschaft sozial handlungsfähig sei. Hier muss man sich natürlich fragen, wie die Experten zu einem derartig dämonischen Menschenbild kommen. Sie kommen aufgrund ihrer eigenen frühen gefühlsvernichtenden Lebensgeschichte dazu, die von ihren Eltern als glückliche Kindheit verkauft wurde. Die daraus entstandene kognitive Verwirrung drückt sich in den Worten wohlwollende Konsequenz und Strenge aus. Inzwischen ist es nachgewiesen, dass die Eltern das Asoziale und Böse in ihren Kindern erzeugen. Diesbezüglich verweise ich auf die Forschungsergebnisse einiger Hirnforscher, die ich hier auszugsweise im Kapitel Forschung wiedergebe. Fühlende Psychologen kennen schon seit vielen Jahrzehnten die Ursachen der menschlichen Destruktivität.

 

Ist es nicht geradezu unheimlich und unverantwortlich zugleich, dass sich niemand der gut bezahlten Redakteure von den vielen Zeitungen und Fernsehsendern die Mühe machte, die wirklichen Umstände, die die Tat von Sebastian B. ermöglichten, aufzudecken? Die Medien verweigern im Grunde damit die Aufklärungsarbeit, für die sie stets plakativ werben. Sie beschränken sich stattdessen bloß auf die oberflächliche Beschreibung „spektakulärer Skandale“, ohne auf deren Ursachen einzugehen. 

 

Wir können es uns nicht mehr lange leisten, mit offenen Augen der Gefühlsvernichtung von Kindern erzieherisch zu huldigen. Das würde unseren kollektiven Untergang bedeuten. Wenn wir dagegen wirklich liebevoll mit unseren Kindern umgingen und deren Gefühle uns alles bedeuteten, dann würde das Leben eine blühende Pracht sein.

 

© Michael Dressel 12/2006