Ich schrieb mehr als 2 Jahre an diesem Artikel. Es dauerte deswegen so lange, weil ich nur Rückschlüsse auf dieses Ereignis machen konnte. Es gibt nämlich keine näheren Informationen über das kurze Leben von Tim K. Auch in Zukunft wird es mit Sicherheit keine näheren Informationen über sein kurzes Leben geben.

 

Für ein besseres Verständnis dieses Amoklaufs wäre es sinnvoll, vorher meinen Artikel Amoklauf in Emsdetten zu lesen.

 

MD 9/2011

 

Amoklauf in Winnenden

Dieses grauenvolle Ereignis zeigt uns, in was für einem schrecklichen Zustand sich unsere Gesellschaft befindet. Alle verantwortlichen Politiker sowie alle befragten sogenannten Experten erklärten einmütig, für sie sei der Amoklauf von Tim K. unerklärlich. Wie kann es sein, dass ausgerechnet die Menschen, die sich große Verantwortung aufbürden, keine Ahnung davon haben, warum es solche grauenvollen Taten gibt? Sie müssten doch längst die schon seit langem zur Verfügung stehenden Informationen über die Ursachen der menschlichen Destruktivität gelesen haben. Mit was beschäftigen sie sich eigentlich? Warum kommen ausgerechnet ignorante Menschen in diese verantwortungsvollen Positionen? Warum kann ein ignoranter Mensch sich Experte nennen, obwohl er von den wichtigen Dingen des Lebens keine Ahnung hat?


Das alles sind sehr wichtige Fragen, die sich jeder stellen müsste, damit sich einmal am schrecklichen Zustand unserer Gesellschaft etwas ändert. Ich versuche im Folgenden, die Antworten auf die oben aufgeworfenen Fragen zu geben, weil die verantwortlichen Personen sie eh nicht geben können. Deshalb sind sie ja so völlig ungeeignet für die Positionen, die sie bekleiden.


Wenn etwas Grauenvolles passiert, müsste man zuerst darauf schauen, wie das Grauenvolle konkret aussieht, um sein ganzes Ausmaß erkennen zu können. Sodann müsste man auf die Person schauen, die die grauenvolle Tat begangen hat. Da kein Mensch von Natur aus andere Menschen tötet, müsste es unser größtes Anliegen sein, herauszufinden, wie es trotzdem dazu kommen kann.

 

Im Fall vom Amoklauf in Winnenden scheint es genau umgekehrt zu sein. Denn schon bald verbreitete sich die Meinung wie ein Lauffeuer, man dürfe den Täter in der Öffentlichkeit nicht nennen, damit er keine Nachahmer finde. Doch was für einen Sinn macht diese Forderung? Die Nichtnennung des Täters ändert ja nichts an der Tatsache, dass die Medien bereits ausführlich über den Amoklauf berichten. Schließlich ist das ihre Aufgabe. Nimmt man die Forderung ihrem Sinn nach ernst, so müsste schnell klar sein, dass ein Nachahmer nur die Tat nachahmen kann, aber niemals den Täter. Den Täter kennt der Nachahmer nämlich gar nicht und wird ihn im Normalfall auch niemals kennenlernen. Um dem angestrebten Zweck der Forderung tatsächlich nachkommen zu können, müsste man die Berichterstattung über Amokläufe gänzlich verbieten, damit eine vermeintlich daraus folgende Nachahmungsgefahr verhindert würde. Das bedeutete aber, solche grauenvolle Taten im Unkenntlichen gären zu lassen, was zwangsläufig eine ewige Wiederholungsgefahr nach sich ziehen würde. Eine Nachahmungsgefahr kann es begreiflicherweise erst dann nicht mehr geben, wenn es keine Wiederholungsgefahr mehr gibt. Dafür müssten aber zuvor die Ursachen von Amokläufen aufgeklärt werden, damit sich diese zukünftig nicht aus unbewussten zwanghaften Gründen ständig wiederholen. Doch das ist bisher nie der Fall gewesen.

 

Ein Professor der Rechtswissenschaften meint sogar, es müsse ein Straftatbestand gegen die Nennung eines Amokläufers bis 10 Jahre nach der Tatbegehung gesetzlich normiert werden. Er begründet seinen Gesetzesvorschlag damit, man dürfe dem Amokläufer keine Möglichkeit bieten, als gefeierter „negativer Held“ dazustehen. Ich zitiere hier aus seiner Begründung: „Bei dem Täter handelt es sich meist um eine männl. Person, die sich für gescheitert hält und für sich selbst keine Erfolgschance im Leben erkennt. Er sieht seine Tat (und zwar durchaus realistisch!) als einzige Chance an, sich ‚unsterblich‘ zu machen. Selbst ein Gewinn bei DSDS oder bei Wer wird Millionär kann diesen ‚Ruhm‘ nicht toppen. Alle bisherigen Taten zeichnen sich dadurch aus, dass sich der Täter mit früheren Vorgängen identifiziert hat. Er strebt zum Teil an, frühere Täter zu übertreffen.“ Man mag kaum glauben, dass so eine verworrene Begründung aus dem Kopf eines Professors entspringen kann. Im völligen Widerspruch zu seinem Gesetzesvorschlag, der das Verbot der Nennung eines Amokläufers bis 10 Jahre nach  Tatbegehung vorsieht, sagt er, dass der Täter sich mit seiner Tat „unsterblich machen will“. Geht es letztlich doch um die Tat? Um später die Kurve zum Täter zu bekommen, stellt der Professor einfach eine andere Behauptung auf: Der Täter würde sich mit seinen Vorgängern identifizieren. Ich weiß nicht, woher er sein Wissen nimmt. Er kann es keinesfalls aus dem konkreten Verlauf des Amoklaufs in Winnenden genommen haben, denn Tim K. gab nichts von sich preis. Vermutlich hat der Professor sein Wissen aus dem vormaligen Amoklauf in Emsdetten genommen, denn Sebastian B. gab sehr viel von sich in der Öffentlichkeit preis. Jedoch tötete dieser bekanntlich keine anderen Menschen. Mit der oben zitierten Täterbeschreibung meint der Professor offenbar den mentalen Zustand von Sebastian B. aber nicht den von Tim K. Wie kann es sein, dass er die beiden Amokläufer miteinander verwechselt?

 

Den verwirrten Professor der Rechtswissenschaften interessiert es auch nicht, warum ein Amokläufer „für sich selbst keine Erfolgschance im Leben erkennt“ und sich als „gescheitert ansieht“. Und was versteht der Professor unter dieser Selbsteinschätzung eines erst achtzehnjährigen jungen Mannes, der noch das ganze Leben vor sich hat? Beides belässt er im Unklaren. Vor allem belässt er im Unklaren, weshalb ein junger Täter ein derart desaströses Selbstbild entwickeln kann und aufgrund dessen andere Menschen tötet. Der Professor plappert ganz offensichtlich die Allgemeinplätze nach, die die meisten verwirrten sogenannten Experten nach Amokläufen von sich geben. Er faselt davon, der Täter wolle sich mit seiner Tat deswegen „unsterblich machen“, weil er hierfür im Amoklauf seine einzige Chance“ sehe. Er wolle angeblich zu einem „gefeierten negativen Helden“ werden. Der Professor sieht es offenbar als völlig selbstverständlich an, als ob der Täter eine rationale Handlung beginge, also ein berechnendes Monster wäre, das von den Anderen bewundert werden wolle. Aber wie kann der Täter Bewunderung erwarten, wenn die vermeintlichen Bewunderer möglicherweise selbst Gefahr laufen, Opfer seines Amoklaufs zu werden. Wie kommt dieser Professor zu einer derart wahrnehmungsgestörten 

Schlussfolgerung? Seine kognitive Verwirrung zeigt er nicht zuletzt mit seinem Satz: Der Täter strebe zum Teil an, frühere Täter zu übertreffen. Denn hier kann das Wort „Täter“ für das Wort „Tat“ beliebig ausgetauscht werden, ohne den Sinngehalt seiner Aussage zu verändern. Woher er auch hier sein Wissen nimmt, bleibt ein unlösbares Rätsel. Wir dürfen in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass der Professor anlässlich des Amoklaufs von Tim K. seine Forderung zum Besten gab. Darum müsste er sein Wissen aus dem Umfeld von Tim K. bezogen haben. Doch genau das kann nicht sein, denn weder dieser noch die Eltern oder andere Personen gaben etwas von Tim K. preis. Folglich kann der Professor kein konkretes Wissen über dessen mentalen Zustand haben. 


Der Professor verwechselt
zudem Nachahmungsgefahr mit Wiederholungsgefahr. Er begreift nicht, dass erst die Wiederholungsgefahr die Nachahmungsgefahr ermöglicht. Für ein wahrhaftiges Verständnis müssten also zunächst der Amoklauf und dann die Lebensgeschichte des Amokläufers ganz genau betrachtet werden. Erst wenn die lebensgeschichtlichen Ursachen für einen Amoklauf erkannt und aus der Welt gebannt werden, kann man zukünftig eine Wiederholungsgefahr und somit eine Nachahmungsgefahr verhindern.


Unterschwellig mag auch die Auffassung eine große Rolle spielen, die sogenannten Experten hätten ein besseres Verständnis über Amokläufe als das „gemeine Volk“, deshalb sollten nur diese von den Tätern Kenntnis erlangen.
 In diesem Zusammenhang
 hörte ich einmal das Wort Herrschaftswissen, das ich hier absolut zutreffend finde. Doch auch eine solche Auffassung ist alles andere als nachvollziehbar, da die Medien von der Tat bereits ausführlich berichten. Warum sollten die sogenannten Experten durch die Kenntnis des Täters ein besseres Verständnis für einen Amoklauf aufbringen, wenn sie die lebensgeschichtlichen Hintergründe des Amokläufers eh ignorieren?

 

Ob der Täter von den Medien genannt wird oder nicht, spielt in der Ursachenaufdeckung nur insoweit eine Rolle, als die lebensgeschichtlichen Hintergründe wirklich durchleuchtet würden. Doch genau das tun die Medien nicht. Sie weichen beständig der entscheidenden Frage aus, weshalb ein Amoklauf geschehen kann. Stattdessen stellen Sie einfach die vermeintlich unerschütterliche Behauptung auf, Amokläufe seien unerklärbar. Die wirklichen Hauptverantwortlichen, die Eltern der Amokläufer, werden stets rigoros bei allen Erklärungsversuchen ausgeklammert. Die Medien suchen stattdessen die Ursachen für Amokläufe bei nicht richtig aufbewahrten Schusswaffen, bei Killerspielen, beim Mobbing in der Schule und schließlich beim Amokläufer selbst. Als ob eine nicht richtig aufbewahrte Schusswaffe zwangsläufig zur Tötung eines Menschen führt. Derjenige, der die Schusswaffe in seiner Hand hält, muss auch mental dazu fähig sein, sie für die Tötung eines anderen Menschen zu gebrauchen. Somit entpuppt sich das Argument der nicht richtig aufbewahrten Schusswaffe als eine völlige Realitätsverleugnung. Nach dieser Auffassung wäre der Amokläufer selbst die Ursache für den Amoklauf. Demzufolge läge das Böse biologisch im Menschen verankert. Keiner fragt sich, warum ein derart dämonisches Menschenbild in den Medien herumgeistert. Anstatt aufdeckende Informationen anzubieten, verbreiten sie ein total beängstigendes Menschenbild. 


Keine Eltern quälen bewusst bzw. von Natur aus ihr Kind. Tatsächlich quälen sie ihr Kind aus unbewussten zwanghaften Gründen, weil sie einst selbst als Kind die gleiche Qual durch die eigenen Eltern erdulden mussten und die erduldete Qual zu ihrem Besten um deuten mussten. Trotzdem liebten sie die eigenen Eltern über alles. Aufgrund dieser dissoziativen Lebenserfahrung, die den Blick für die Wirklichkeit total verzerrt, verloren sie den lebenswichtigen Kontakt zu ihren authentischen Gefühlen. Im Wiederholungszwang schaffen sie fatalerweise die Ursache für Amokläufe, indem sie mit den gefundenen Ersatzobjekten als Opfer auf identische Weise umgehen, wie es ihre Eltern mit ihnen taten.


Ich wende mich nun konkret dem Amoklauf in Winnenden zu. Wenn Sie zuvor meinen Artikel über den Amoklauf in Emsdetten gelesen haben, müsste Ihnen sofort ein gravierender Unterschied zwischen beiden Amokläufen auffallen. Sebastian B. hatte in vielerlei Hinsicht versucht, seine Not öffentlich mitzuteilen. Er fand aber niemanden, der seine Not hinter den vielen Mitteilungen, die er im Internet veröffentlichte, wahrgenommen hätte. In seiner verzweifelten Situation reinszenierte er die von der elterlichen Hauptidentifikations-

figur erlernten Schemata. Für seinen Amoklauf benutzte er bezeichnenderweise Museumswaffen und ließ die wirklich gefährliche Waffe, die Walther P 38, zu Hause. Der Verlauf seines Amoklaufs lässt keinerlei Rückschlüsse zu, dass er vorsätzlich andere Menschen töten wollte. Da er seinen inneren Zustand vielfach nach außen auszudrücken versuchte, richtete er ihn nicht eins zu eins in Form von zerstörerischen Ersatzhandlungen gegen seine Umwelt. Am Ende richtete er den abgespaltenen Hass nur gegen sich selbst. Seine elterliche Hauptidentifikationsfigur lebte ihm offenbar keine Allmacht, sondern eher Resignation vor.


Tim K. dagegen offenbarte im Unterschied zu Sebastian B. nichts von seinem inneren Zustand. Dieser blieb in seinem inneren Bunker völlig verborgen. Tim K. wurde von seinen Mitschülern als still bezeichnet, als jemand, der nichts von sich preisgab. Im Nachhinein bestätigte sich, dass er niemandem etwas von seinem inneren Zustand preisgab. Trotzdem stellten einige Politiker und Medien falsche Behauptungen auf, was vermutlich deshalb geschah, um eine Nachahmungstat zu vorherigen Tätern zu konstruieren. Tim K. wäre demzufolge in
einem dunklen Sturmanzug aufgetreten, wäre möglicherweise von Mitschülern gemobbt worden, hätte einen Abschiedsbrief an seine Eltern geschrieben und hätte im Internet seinen Amoklauf angekündigt. All das geschah bei Sebastian B. und nachweislich nicht bei Tim K.  

 

Der baden-württembergische Kultusminister bezeichnete Tim K. als einen nach außen völlig unauffälligen Jugendlichen. So bezeichnete ihn auch einhellig sein Umfeld. Hier kommt mit aller Wucht das aneinander Vorbeileben zum Vorschein, wo niemand den Anderen wirkich kennt. Deshalb ist es immer wieder möglich, dass die schrecklichsten Dinge völlig unerwartet geschehen können.
 
 

Da auch ich nichts Näheres über Tim K. in Erfahrung gebracht habe, kann ich verständlicherweise auch nichts über seinen tatsächlichen mentalen Zustand sagen. Doch weiß ich etwas über mentale Prozesse zu sagen, sofern ein Mensch in seinem inneren Bunker eingesperrt bleibt. Wenn ein Mensch seine ihn quälenden und zermürbenden Gefühle nicht nach außen ausdrücken kann, dann sucht er unbewusst nach einem anderen Weg, sie doch noch auf irgendeine andere Weise nach außen auszudrücken. Gefühle sind der nach außen ausgedrückte innere Zustand eines Menschen und deswegen von Natur aus immer nach außen gerichtet.


Im Folgenden beschränke ich mich auf die zwischenmenschlichen Erfahrungen mit den primären Bezugspersonen, die Tim K. mit großer Wahrscheinlichkeit gemacht haben musste, denn diese sind am bedeutendsten für die Entwicklung eines Menschen. Wie sah sein zubetoniertes Inneres aus? Welchen zwischenmenschlichen Umgang erfuhr er als abhängiges Kind durch seine Eltern? Warum konnte er sich ihnen nicht wahrhaftig mitteilen? Welchen Eindruck gewann er von seinem Vater, der offenbar viel mehr Zeit den Waffen widmete als ihm? Welche Rolle spielten die Waffen im alltäglichen Leben seiner Familie? Warum lag Munition griffbereit im Haus herum? Diese Fragen kann ich, wie bereits gesagt, nicht beantworten. Nichtsdestotrotz konnte Tim K. nur so handeln, wie es ihm seine Lebensgeschichte lehrte. Plötzlich drängten ihn seine lebensgeschichtlichen Erfahrungen dazu, total zerstörerisch im zwischenmenschlichen Umgang zu handeln. Wie konnte das sein?


Wenn ein Kind sich nach Geborgenheit und Erfüllung lebensnotwendiger Bedürfnisse sehnt, jedoch seine Eltern darauf nicht nur mit Gleichgültigkeit, sondern vielmehr mit eiskalter Ablehnung reagieren, dann muss ihm diese Reaktion wie die Vernichtung seiner Person vorkommen. Ausgerechnet in den Momenten, wo es sich nach liebevoller zwischenmenschlicher Nähe sehnt, erfährt es die totale Ablehnung, was einem Todesurteil gleichkommt. Lenkt das Kind später als Erwachsener diese Erfahrungen auf Ersatzobjekte, werden diese in die gleiche lebensvernichtende Situation versetzt. Daher kann es schlimmstenfalls sogar zur physischen Vernichtung der Ersatzobjekte kommen. Das liegt einerseits an der körperlichen Komponente der Gefühle und andererseits an der Stellvertreterfunktion der Ersatzobjekte. Denn Gefühle drängen solange nach einer Ausdrucksmöglichkeit, bis sie einen verständigen Adressaten gefunden haben. Finden Sie stattdessen keinen verständigen Adressaten, kommt die körperliche Komponente zum Zug, um den Gefühlen doch noch den angeborenen Drang nach Ausdruck zu ermöglichen. Eigentlich kämen als verständige Adressaten die Verursacher der Gefühle, also die Eltern, in Betracht
. Da dies jedoch bei Tim K. nicht der Fall war, drückte er seine Gefühle stellvertretend mit der körperlichen Komponente gegenüber den gefundenen Ersatzobjekten aus. Die körperliche Komponente repräsentiert dabei das Abbild der Erfahrungen, die die Gefühle verursacht haben. In den Ersatzobjekten entstehen deshalb stellvertretend die unterdrückten Gefühle desjenigen, der seine Gefühle verdrängt. Soweit die Ersatzobjekte zusätzlich mit dem Abbild der persönlichen Vernichtung konfrontiert werden, kann es im äußersten Fall auch zu deren physischen Vernichtung kommen. Das passiert selbstverständlich nur dann, wenn der Täter sich niemandem mitteilen kann.

 

Vermutlich verliebte sich Tim K. in ein Mädchen aus seiner ehemaligen Schule. Jedoch muss ihn das Mädchen unmissverständlich abgewiesen haben, infolgedessen der Stein für seinen Amoklauf zum Rollen kam. Doch auf die Abweisung des Mädchens folgte kein klärendes Gespräch. Deshalb versuchte er mit der Abweisung allein fertig zu werden, so wie er es seit jeher gewohnt war, wenn ihm seine geliebten Eltern weh taten. Doch die Abweisung musste ihn so sehr getroffen haben, wie einst die eiskalte Ablehnung von seinen geliebten Eltern, die er als unumgänglich empfand und für ihn gleichzeitig die persönliche Vernichtung bedeutete. Hierbei war die elterliche Hauptidentifikationsfigur ganz offensichtlich sein Vater, der von Nachbarskindern als Patriarch beschrieben wurde. Da er sich mit seinem allmächtigen Vater absolut identifizierte, übernahm er dessen Rolle. In der Rolle des Vaters durfte ihn niemand abweisen, so wie er es niemals mit seinem Vater tun durfte. Darum wendete er das von seinem Vater erlernte Schema gegenüber seinen ehemaligen Mitschülerinnen an. Wahrscheinlich hatte das geliebte Mädchen Winnenden schon längst verlassen, weswegen seine ehemaligen Mitschülerinnen als Stellvertreterinnen fungierten. Da Tim K. kein klärendes Gespräch mit dem geliebten Mädchen herstellen konnte, führte das fatalerweise zur Tötung seiner ehemaligen Mitschülerinnen.


Wenn jemand von den vernichtenden Qualen, die er als wehrloses Kind klaglos hinnehmen musste, nichts mitteilen darf und sich stattdessen mit dem misshandelnden Elternteil total identifiziert, dann ist die Ersatzhandlung die einzige wahrnehmbare Sprache gegenüber der Umwelt. Die Ersatzhandlung steht stellvertretend für die ehemals gefühlte Vernichtung der eigenen Person. Darum wiederholte Tim K. an seinen ehemaligen Mitschülerinnen, für die er eigentlich Sympathie empfand, die zwischenmenschlichen Erfahrungen mit seinem Vater. Die Sympathie für seine ehemaligen Mitschülerinnen pervertierte genauso in eine zerstörerische Handlung, wie er es einst als Kind von seinem Vater, dem Patriarchen, in den Momenten erfuhr, als er sich nach liebevoller Zuwendung sehnte, jedoch stattdessen nur vernichtende Ablehnung bekam. Da die intensive primäre Liebesbindung zum Vater mit den besagten vernichtenden Erfahrungen einherging, befähigte ihn das, seine ehemaligen Mitschülerinnen zu töten, obwohl er sie sympathisch fand.


Als Tim K. am Ende seines Vernichtungsfeldzugs sich einem übermächtigen Polizeiaufgebot gegenüber sah, versetzte ihn das wieder in die Rolle des hilf- und wehrlosen Kindes. Darum richtete er seine abgespaltenen Gefühle der persönlichen Vernichtung nicht mehr gegen Ersatzobjekte, sondern gegen sich selbst. Er beging Selbstmord.
 


Selbstverständlich ist das von mir oben beschriebene Szenario ausschließlich ein Rückschluss, da Tim K. nichts von sich preisgab. Jeder Leser meines Artikels mag sich sein eigenes Bild über dieses grauenvolle Geschehen machen und meine Rückschlüsse auf Nachvollziehbarkeit überprüfen.


Gerichtliche Bewertung


Für das Gericht ist nur von Belang, ob der Vater von Tim K. seine Waffen ordnungsgemäß aufbewahrt habe. Es führt in seiner Urteilsbegründung aus, der Vater habe seinem Sohn den Zugang zu Waffen und Munition ermöglicht. Wenn Ärzte einer psychiatrischen Klinik feststellten, von Tim K. gehe zwar keine „akute Fremd- oder Eigengefährdung" aus, er aber auch von einem „Hass auf die Welt" und von Tötungsphantasien getrieben sei, dann hätte der Vater voraussehen müssen, dass von seinem Sohn eine tödliche Gefahr ausgehe, sobald dieser Zugang zu Waffen und Munition habe. Aus diesem Grund sei der Vater von Tim K. der fahrlässigen Tötung schuldig. Die unübersehbare Widersprüchlichkeit in der Urteilsbegründung fällt dem Gericht überhaupt nicht auf. 

 

Dem Gericht interessiert es auch nicht, warum ein junger Mann zur tödlichen Gefahr für seine Mitmenschen wird, sobald er Tötungsphantasien hegt oder eine geladene Waffe in seinen Händen hält. Stattdessen bescheinigt der Vorsitzende Richter dem Vater von Tim K. wortwörtlich: „Auf dem Angeklagten lastet nur ein Bruchteil der Schuld seines Sohnes." Wie kann es sein, dass ein vermeintlich gut ausgebildeter deutscher Richter dermaßen komplett wahrnehmungsgestört ist? Bei ihm scheint das völlig absurde Menschenbild vorzuherrschen, wir Menschen wären von Natur aus Böse. Er gibt sogar offen zu, dass die Hauptverhandlung keine Klärung über die wirklichen Motive gebracht habe. Zugleich aber ignoriert der Richter eine sehr wichtige Aussage in der Hauptverhandlung: Die Schwester von Tim K. sagte aus, sie habe sich drei Tage vor dem Amoklauf darüber beklagt, in ihrer Familie werde nie über Gefühle gesprochen. Diese Aussage hätte den Richter eigentlich dazu veranlassen müssen, sich über den Amoklauf von Tim K. gründlichere Gedanken zu machen. Doch ihn stört stattdessen, dass der Angeklagte sich nicht zu den Anschuldigungen geäußert hat. Obwohl die Strafprozessordnung dem Angeklagten ausdrücklich einräumt, über die angeschuldigte Straftat nicht aussagen zu müssen, wirft ihm der Richter wegen seiner Nichtaussage, einen wenig Empathie zeigenden Verhandlungsstil vor. Ausgerechnet der Richter, der sich über die Entstehung der menschlichen Destruktivität keine Gedanken macht, wirft dem Angeklagten mangelnde Empathie vor. Er fühlt sich offenbar in seiner Autorität als Vorsitzender Richter angegriffen, weswegen er selbstgefällig vom schlampigen Herumliegenlassen der Munition im Haus des Angeklagten spricht. Das ist wohl das einzige Gefühl, das er auszudrücken vermag. In der Position des Vorsitzenden Richters meint er offenbar, unangreifbar und allmächtig zu sein. Das unumstößliche Prinzip des Machtverhältnisses zwischen Richter und Angeklagtem muss er schon früh in seiner Kindheit erlernt haben. Insofern erschienen ihm damals seine Eltern als die mächtigsten Menschen, denen er sich als machtloses Kind unterordnen musste. Als Vorsitzender Richter übernimmt er infolgedessen völlig unreflektiert die Rolle seiner Eltern, weil er sich mit diesen total identifiziert. Dabei hat er die Rolle des machtlosen Kindes wie ein lästiges Insekt von sich abgestreift. Alles, was ihn wieder in die Rolle des machtlosen Kindes versetzen könnte, bekämpft er mit der gleichen Selbstgefälligkeit, wie er sie einst durch seine Eltern erfuhr. Darum ist er imstande in seiner Urteilsbegründung zu sagen: „Der Angeklagte wird sein ganzes Leben lang darunter leiden, der Vater eines Massenmörders zu sein“. Dass der Vater jedoch selbst den Massenmörder produziert hat und somit die Hauptschuld trägt, entzieht sich vollständig seiner juristischen Denkweise. Wie geistesabwesend resümiert er, der Angeklagte habe zwar einen Sohn verloren, aber dieser sei im Gegensatz zu seinen Opfern freiwillig aus dem Leben geschieden. Er meint allen Ernstes, es gäbe Menschen, die sich freiwillig umbringen würden. Von zerstörerischen Zwängen, sich selbst oder anderen Schaden zuzufügen, scheint er nie etwas gehört zu haben. Insofern ist es absolut unverantwortlich, solch einem Menschen das Richteramt anzuvertauen.


Doch auch die betroffenen Eltern der getöteten Schüler wollen unter keinen Umständen wissen, wie es zu diesem Massenmord kommen konnte. Sie reagieren auf die übliche Weise: „
Es gibt keine Gerechtigkeit, die diesen 15-fachen Mord in irgendeiner Weise sühnen könnte. Als ob irgendeine Sühne die Tötung ihrer Kinder aufwiegen könnte. Und was hat ausgerechnet Gerechtigkeit damit zu tun? Gerecht wäre es gewesen, wenn ihre Kinder hätten normal weiterleben können. Sie machen sich überhaupt keine Gedanken darüber, warum ein erst siebzehnjähriger Junge zu einem Massenmörder werden kann. Doch sie machen sich Gedanken darüber, weshalb das Waffengesetz noch immer nicht verschärft worden ist. Warum Eltern dazu in der Lage sind, ihre Kinder zu lebensgefährlichen Monstern zu machen, darüber wollen sie ganz offensichtlich nichts wissen. Sie schlucken sogar bereitwillig das geheuchelte Mitgefühl des Angeklagten: „Ich fühle mich verantwortlich für meinen Sohn Tim und die Fehler, die ich gemacht habe“. Wenn der Angeklagte es ehrlich meinen würde, dann hätte er von den bestialischen Qualen erzählt, die er seinem Sohn zufügte. Diese hätte er dann nicht als Fehler bezeichnet, sondern als seelischen Mord.


© Michael Dressel 5/2009 - 9/2011