Zum Begriff Verdrängung

Der Begriff Verdrängung am Beginn des menschlichen Lebens gibt m. E. die Realität des frühkindlichen Erlebens nicht richtig wieder. Besonders wegen seiner psychoanalytischen Herkunft muß dieser Begriff sehr kritisch betrachtet werden. Er beschreibt den Mechanismus, den das „Ich“ gegen ein  anstehendes „Triebbedürfnis“ im Wege der Abwehr bzw. Unterdrückung unternimmt. Doch die Psychoanalyse bleibt die Erklärung schuldig, welchen Vorerfahrungen es bedarf, dass überhaupt ein solcher Mechanismus entstehen kann. Sie beschreibt mit dem Begriff Verdrängung einen intrapsychischen Vorgang, ohne im geringsten auf die Vorgeschichte dieses Mechanismus einzugehen. Dieser Artikel beschäftigt sich vorrangig mit der Vorgeschichte.

 

Für meine Überlegungen möchte ich zum besseren Verständnis ein konkretes Beispiel anbringen: Ein Säugling, der sich nach elterlicher Wärme und Geborgenheit (Triebbedürfnis) sehnt und dessen Eltern seine Bedürfnisse nicht wahrnehmen, wird die grundlegende Erfahrung machen, daß seine genuinen Bedürfnisse auf taube Ohren stoßen. Es ist so, als ob sie nicht existierten. Wenn diese Erfahrung zur Normalität heranwächst, weil die Eltern keine Antennen für die Bedürfnisse ihres Säuglings haben, entsteht eine Diskrepanz zwischen genuinen Bedürfnissen und der 

aufgezwungenen Realität (Abwehr und Unterdrückung). Der Säugling muß sich wegen seiner ignorierten Bedürfnisse und den damit verbundenen Gefühlen der isolierenden Vereinsamung völlig fremd und unpassend vorkommen. Die naturgegebene Wertung hinsichtlich seiner Bedürfnisse, für die seine Emotionen und Gefühle zuständig sind, wird dabei völlig auf dem Kopf gestellt. Man m folglich von einer Neustrukturierung der einst naturgegebenen Wertung sprechen. Was ursprünglich als lebensnotwendig empfunden wurde, weiche Haut und zwischenmenschliche Wärme, entpuppt sich im tatsächlichen Umgang mit den Eltern als lebensgefährlich. Hinzu kommt die damit verursachte kognitive Verwirrung. Denn die Botschaft der Eltern bezüglich ihres Verhaltens lautet, sie würden nur das Beste für ihren Säugling tun. Ihr Säugling fühlt dagegen, daß sie das eben nicht tun. Doch weil er seinen Eltern mangels anderer Erfahrungen die Heuchelei abnimmt, werden ihm seine Gefühle nach und nach fremd, bis er aus sich selbst heraus nicht mehr weiß, was ihm gut tut und was nicht. Er kennt kaum noch seine wirklichen Bedürfnisse. Einmal an die elterlichen Vorgaben angepaßt, funktioniert er wie fremdgesteuert. Es sind nicht mehr seine Emotionen und Gefühle, die für die Entscheidungen seines Wohlbefindens verantwortlich sind. Sein originäres Wesen schlummert jenseits seines bewussten zwangsangepaßten Daseins in den Tiefen des Unterbewußtseins und ist nicht imstande sich weiterzuentwickeln. Insofern erhält die o. g. Definition der Verdrängung am Beginn des menschlichen Lebens eine völlig andere Bedeutung.

 

Im Übrigen suggeriert das Wort Verdrängung eine willkürliche Handlung des Säuglings. Die wirklichen Verursacher seiner Not bleiben bei einer solchen Begrifflichkeit völlig unerkannt. Das ist aus der Sicht des Säuglings auch tatsächlich der Fall. Denn durch die Umwertung der elterlichen Übergriffe in gute Taten verlieren diese ihre reale Bedeutung. Folglich tun die Eltern nichts Schlechtes, sondern etwas vermeintlich Gutes. Insofern können die Eltern vom Säugling nicht mehr als die Verursacher seiner Not erkannt werden. Deshalb weist der Begriff Verdrängung eindeutig einen reaktiven Charakter auf.

 

Zudem wird der Begriff Verdrängung normalerweise aus der Sicht eines nicht beteiligten Dritten benutzt. D. h., der Vorgang wird aus einer Art Metaperspektive betrachtet. Metaperspektive bedeutet in dieser Hinsicht, daß man gefühlsmäßig außerhalb des beobachteten Vorgangs steht. Das ist vergleichbar mit einem Außerirdischen, der mit seinem Verständnis eines Außerirdischen versucht, das menschliche Verhalten auf unserem Planeten zu ergründen. Dabei bleibt die Perspektive des Säuglings, wie er die Situation erlebt und fühlt, völlig unerkannt. Sein Schmerz und seine Not verwandeln sich in ein stummes Entsetzen, das weder von den Eltern noch von ihm oder von irgendeinem anderen Menschen wahrgenommen wird. Daher kann man Verdrängung, deren Begrifflichkeit eh nicht zutreffend für einen hilflosen Säugling ist, schwerlich als lebensrettend bezeichnen. Vielmehr ist der beschriebene Vorgang verantwortlich für die Aushöhlung und Zerstörung seines ursprünglichen Wesens. Daß sein Körper überlebt, liegt vor allem an den erlernten sozialen Konventionen der Eltern, ihren Säugling zu ernähren, zu säubern und je nach Laune auch mal in die Arme zu nehmen. Gäbe es diese erlernten sozialen Konventionen nicht, wäre die Menschheit vermutlich schon längst ausgestorben. Damit will ich keinen Pessimismus hinsichtlich der menschlichen Conditio verbreiten, sondern ganz unmißverständlich darauf hinweisen, was die Ursachen für die menschlichen Abgründe sind, damit sie nicht ständig zwanghaft wiederholt werden. Deshalb ist der Begriff Verdrängung am Lebensbeginn eines Menschen absolut unpassend. Etwas anderes gilt allenfalls beim erwachsenen Menschen. Der Erwachsene verdrängt nämlich dann Geschehnisse aus seiner frühen Lebensgeschichte, wenn er die Chance zur Reflexion bewußt oder unbewußt nicht wahrnimmt. Er hat zumindest objektiv eine Wahl, die der Säugling nicht hat. Demnach mag der Begriff Verdrängung beim Erwachsenen zumindest aus einer objektiven Sichtweise passend sein, beim Säugling jedoch nicht, weder objektiv noch subjektiv.

 

Doch das Verhängnisvolle ist, daß das Kind sich der dämonischen Welt seiner Eltern total anpaßt und sich später nur in dieser zurechtfinden kann. Die dämonische Welt zeichnet sich durch das Machtgefälle zwischen Eltern und Kind aus. In ihr dürfen die allmächtigen, allwissenden Eltern mit ihrem Kind umgehen, wie es ihnen gerade paßt. Da das Kind nun einmal in dieser angst machenden dämonischen Welt leben muß, wünscht es sich nichts sehnlicher, als ganz schnell genauso mächtig wie seine Eltern zu werden‚ damit es nie wieder den Status des schwachen, verletzbaren Kindes einnimmt. Der Ausweg aus seinen Qualen erscheint ihm deshalb der Status der Erwachsenen zu sein. Er verheißt ihm Unverletzbarkeit und Stärke. Auf diese Weise wird das Kind zur Kopie seiner gefühlserfrorenen Eltern und findet sich später in der dämonischen Erwachsenenwelt bestens zurecht.

 

Zur Veranschaulichung meiner Ausführungen möchte ich meine häufig gemachten Erfahrungen mit Müttern wiedergeben. Dabei geht es meistens darum, daß sie ihr mißachtendes Verhalten gegenüber ihrem Kind, das sie angeblich über alles lieben, mit zuweilen sehr phantasievollen Begründungen rechtfertigen. Ich wüßte gar nicht, wie anstrengend Kinder sein könnten. Dieser Vorwurf gegenüber dem angeblich über alles geliebten Kind erstaunt mich sehr, belegt er doch, wie eingefroren die Gefühle vieler Mütter sind. Deshalb sind sie unfähig, die Not ihres Kindes, die sie selbst bei ihm erzeugt haben, wahrzunehmen. Ebensowenig nehmen sie wahr, daß ihr Vorgehen mit Liebe gar nichts zu tun hat. Die Ursache hierfür ist immer wieder dieselbe: Diese Mütter wurden, als sie selbst kleine abhängige Kinder waren, von den eigenen ttern in die gleiche Not gebracht. Sie mussten die demütigenden 

Erziehungsmaßnahmen aufgrund ihres angeblich aufsässigen Verhaltens als Wohltat umdeuten. Folglich werteten sie das Gefühl des Schmerzes, das durch die deműtigenden Erziehungsmaßnahmen verursacht wurde, verstandesmäßig als unpassend. Wegen dieser verdrehten Wertung trübte sich ihre genuine Wahrnehmungsfähigkeit 

empfindlich. 

Daß es die eigenen tter waren, die ihre damalige Aufsässigkeit erzeugten, können sie nicht mehr wahrnehmen. Sie tragen das völlig irrwitzige Selbstbild in sich, sie hätten die Strafen ihrer Mütter verdient, weil sie als Kinder angeblich so aufsässig gewesen wären. Sie haben sich komplett mit den strafenden Müttern identifiziert und können alles nur noch aus deren Perspektive sehen. Diese Lektion kann ein Leben lang in ihren Körpern wirksam bleiben, es sei denn, sie machen später als Erwachsene andere Erfahrungen mit fühlenden Menschen. Mithilfe dieser anderen Erfahrungen kommen sie zum ersten Mal in die Lage, darüber zu reflektieren, welchen Grausamkeiten sie einst als abhängiges Kind unterworfen waren. Sobald sie befähigt sein werden zu fühlen, welch unvorstellbare Schmerzen es ihnen bereitete, daß sie ausgerechnet von ihreren über alles geliebten Müttern scheußlich behandelt wurden, übernehmen ihre wieder auflebenden Gefühle die Wertungen, was ihnen gut oder schlecht tut. Sie merken, daß ihre Aufsässigkeit nur Reaktion auf die erfahrenen Demütigungen war. Sie werden infolgedessen ihre eigenen Kinder nicht als Sündenböcke mißbrauchen, weil sie fühlen, welche Schmerzen sie ihnen damit zufügen würden. Liebe verbinden sie deshalb nicht mehr wie selbstverständlich mit dem damaligen scheußlichen Verhalten ihrer Mütter.

 

Die Bonobos im zentralen Kongobecken kämen niemals auf die Idee, ihre Jungen grausam zu behandeln. Sie haben nicht die Meinung, ihre Jungen seien schlecht und bräuchten deshalb Disziplin und künstliche Grenzen, damit sie einmal zu guten Bonobos heranwachsen würden. In Wahrheit wären die Bonobos schon längst nicht mehr die friedfertigen Menschenaffen und hätten sich stattdessen dämonische Züge zugelegt, wenn sie ihre Jungen grausam behandeln würden. Dann würde nämlich der Mächtige darüber bestimmen, was für den Ohnmächtigen gut oder schlecht wäre.

 

Kann das Kind dagegen von Anfang an seine Gefühle den Eltern angstfrei mitteilen, fällt der Grund für die Verdrängung komplett weg. Denn seine Gefühle informieren die Eltern darüber, in welchem Zustand es sich durch ihr Verhalten befindet. Fühlende Eltern werden den Zustand ihres Kindes sofort intuitiv wahrnehmen und so handeln, damit die ganz besondere Beziehung zu ihm freudvoll zugeneigt bleibt. Die Kommunikation zwischen Eltern und Kind beruht in diesem Fall stets auf Wahrhaftigkeit und Einfühlungsvermögen. Die Integrität des Kindes kann in einer solchen Bindung niemals in Gefahr geraten. Demzufolge hängt unser gesamtgesellschaftliches Wohlbefinden davon ab, wie wir mit unseren Kindern umgehen.

 

Die Verdrängung findet also erst dann statt, wenn die kognitive Verwirrung, die den Blick für die Realität verzerrt, sich bereits verfestigt hat. Die Vorgeschichte der Verdrängung in der frühen Kindheit habe ich bereits oben geschildert. Wenn ein Mensch, der eine gefühlsvernichtende Kindheit durchmachen mußte und infolgedessen in seinen emotionalen sowie kognitiven Fähigkeiten empfindlich behindert ist, auf einen anderen Menschen trifft, der heftige Gefühle in ihm auslöst, dann kann er regelmäßig die Heftigkeit seiner Gefühle nicht verstehen. Im Unverständnis jedoch drückt sich die vage Ahnung aus, daß der andere nicht Verursacher seiner heftigen Gefühle sein kann. Doch vage Ahnung führt zu keiner bewußten Erkenntnis. Dazu müßte der betroffene Mensch seine Gefühle bewußt derjenigen Person zuordnen können, der sie eigentlich gelten. Das Phänomen der Verdrängung drückt sich darin aus, daß zwei Gefühlssensationen, die durch denselben Grund hervorgerufen werden, jedoch jeweils völlig unterschiedliche Entstehungsgeschichten aufweisen, miteinander vermischt und deshalb nicht auseinandergehalten werden können. Der unbewußte Mensch kann zwischen den beiden Entstehungsgeschichten nicht unterscheiden. Insbesondere kann er nicht zwischen den Personen unterscheiden, die der jeweiligen Entstehungsgeschichte zuzuordnen sind. Ein Beispiel mag dieses näher verdeutlichen:

 

Eine Mutter schreit ihr Kind mit wutverzerrtem Gesicht an, damit es das tue, was sie ihm befiehlt. Ihre Befehle seien schließlich nur zu seinem Besten, damit ihm nichts Schlimmes geschehe. Dieser Vorgang kostet der Mutter fast nichts, außer vielleicht ein paar angestrengter Stimmbänder. Das verängstigte Kind erfüllt natürlich den Willen seiner Mutter. Sie meint es ja offenbar nur gut mit ihm. Mit der Zeit bekommt die Mutter wegen des daraus folgenden gehorsamen Verhaltens ihres Kindes heraus, daß sie es auf diese Weise beherrschen kann, wenn sie ihren Willen durchsetzen will.

 

Aus der Sicht des Kindes dagegen stellt sich die Situation ganz anders dar. Es sieht einen Dämon vor sich, der es mit fürchterlichem Geschrei einschüchtert. Es kann diesem Dämon unter keinen Umständen entkommen. Ein Entkommen kann es sich in seiner Situation noch nicht einmal vorstellen, denn der Dämon ist seine über alles geliebte Mutter. Gleichzeitig spricht sie mit Engelszungen zu ihm, sie schreie doch nur, damit nichts Schlimmes mit ihm geschehe. Trotzdem macht ihm die Fratze  seiner Mutter schreckliche Angst. Es ist völlig verwirrt und verspürt Angst, obwohl seine Mutter nur das Beste will. Seine Angst wird ihm durch die verwirrenden Geschehnisse nach und nach völlig unverständlich.

 

Immer wieder schreit die Mutter ihr Kind an, so wie sie es früher schon oft getan hatte, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollte. Unterdessen kann das Kind den Willen seiner Mutter nur noch erahnen, da es vor lauter Angst deren Befehle gar nicht mehr richtig begreifen kann. Schon nach wenigen Wochen muß sie gar keine ganzen Sätze mehr herausschreien, um ihr Kind in Angst und Schrecken zu versetzen. Mittlerweile reichen einzelne Worte oder bestimmte Blicke und Gesten aus, da das Kind genau spürt, worauf alles hinausläuft. Diese Art der Kommunikation, die darauf hinausläuft, stets Befehlsempfänger zu sein, geht dem Kind in Fleisch und Blut über. Als es älter wird, erschrecken es hin und wieder andere Menschen, die laut schreien. Es weiß aber nicht, warum es erschrickt. Mit der Zeit verstreichen weitere Jahre. Es ist inzwischen erwachsen und befindet sich in einer Partnerschaft. Auch jetzt erschrickt es, als einmal sein Partner mit lauter Stimme zu ihm spricht. Es schreit seinen Partner an, er solle respektvoller mit ihm umgehen. Sein Partner hat aber nur deswegen laut gesprochen, weil er dachte, der Lärm der Umgebung würde seine Stimme übertönen.

 

Was geschah in der oben geschilderten Geschichte? Das Kind lernte früh, sich der lauten, angsteinflößenden Stimme der Mutter anzupassen. Ursprünglich wußte es genau, warum es Angst hatte. Es hatte Angst, weil seine Mutter es mit ihrer lauten, angsteinflößenden Stimme einschüchterte. Doch der schreiende Dämon war seine über alles geliebte Mutter. Als sie ihm noch einredete, alles geschähe nur zu seinem Besten, verlor es völlig die Orientierung. Denn es hätte anstelle der Angst Dankbarkeit spüren müssen, um seiner Mutter zu genügen. Mit diesen völlig verwirrenden Erfahrungen wurde die Grundlage für die Verdrängung gelegt. Seine Angst war ihm seitdem oft unverständlich. In der Adoleszenz erschraken es hin und wieder schreiende Menschen. Es wußte aber nicht, warum das so war. Die Schreie mahnten unbewußt seine Ängste aus der frühen Kindheit an. Später in der Partnerschaft wurden die alten Wunden aus der frühen Kindheit noch tiefer begraben. Es konnte mittlerweile gar nicht mehr differenzieren, wenn es Schreie hörte. Darum fühlte es sich von seinem Partner respektlos behandelt, als dieser nur wegen des Lärms in der Umgebung lauter sprach. Hier vermischte sich das aktuelle Gefühl der Ratlosigkeit, warum sein Partner lauter mit ihm sprach, mit dem alten Gefühl aus der Kindheit, als es nur Angst und Schrecken verspürt hatte, wenn es von seiner Mutter angeschrien wurde. In diesem Moment war das alte Gefühl absolut dominant, weil damals die angsteinflößenden Schreie der Mutter existenzbedrohlich gewesen waren. Nichtsdestotrotz meinte es, es müsse im Erwachsenstatus unverletzbar sein, so wie es das am Beispiel seiner Mutter lernte. Zudem verband es ganz selbstverständlich Liebe mit verletzenden Erfahrungen. Deshalb schrie es seinen Partner an und forderte Respekt. In Wirklichkeit ging es aber um  gar keine Respektlosigkeit. Es war nicht fähig, seine aus der Vergangenheit stammenden abgespaltenen Gefühle der Angst realistisch der aktuellen Situation zuzuordnen. Es erkannte nicht, daß diese Gefühle einst seine geliebte Mutter erzeugt hatte. Da es damals die Gefühle der Angst in seiner Not nicht ernst nehmen durfte, damit es den Anforderungen seiner geliebten Mutter genügte, kann es in der aktuellen Situation mit seinem Partner bloß diejenigen Erfahrungen reinszensieren, die damals die Gefühle der Angst erzeugten. Darum handelte es gegenüber seinem Partner genauso, wie es einst seine Mutter mit ihm tat. Es schrie ihn an. Es verbindet Liebe wie selbstverständlich mit mißachtendem Verhalten. Seine emotionale Befindlichkeit entspricht in diesem Moment der eines massiv verängstigten Kindes, das schnellstens aus dieser angsteinflößenden Lage herauskommen will.

 

Die verzerrte Wahrnehmungsfähigkeit für die eigene Not und für die eigenen Gefühle der Wut, welche durch die Eltern in der frühen Kindheit verursacht wurden und im Erwachsenenalter fortdauern, nennen Fachleute aus einer distanzierten, objektivierten Perspektive Verdrängung. Mir erscheint diesbezüglich der Begriff Abspaltung zutreffender zu sein, womit ich keinesfalls eine willkürliche Handlung des gedemütigten Kindes meine, sondern eine aus seiner ausweglosen Not geborene reaktive Handlung.

 

Doch ob irgendein Begriff zutreffender das Schicksal eines Kindes beschreibt, ist eigentlich zweitrangig, wenn Einfühlungsvermögen die Eltern dazu befähigt, die von ihnen selbst an ihrem Kind erzeugte Not und die sich daraus ergebenden Folgeerscheinungen zu erkennen. Ihre gefühlte Erkenntnis wird sie dazu bringen, ihr Kind nie wieder dieser Not auszusetzen. Sie wissen jetzt Bescheid über die verheerenden Folgen der Gewalt in all ihren Schattierungen, vor allem dann, wenn sie am Lebensanfang geschieht und heuchlerisch als Liebe bezeichnet wird. Dann spielt der Streit über die zutreffendere Definition keine Rolle mehr.

 

© Michael Dressel 8/1990

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