Diesen Artikel bot ich der Tageszeitung WZ an. Doch die Verantwortlichen reagierten noch nicht einmal auf mein Angebot, stattdessen ließen sie den Bischof von Essen seine mentale Verwirrung vor ihrer Leserschaft ausbreiten.


MD

 

Reflexionen über das grauenvolle Ereignis auf der Loveparade 2010

Es gibt Menschen, die fühlen und einfach so handeln, wie es ihnen ihre Gefühle vorgeben. Menschen, die fühlen, haben eine funktionierende Wahrnehmung. Das ermöglicht ihnen, Hilfe zu leisten, wenn jemand um sein Leben schreit. Sie können dann einfach nicht anders, als zu helfen. Aber leider ist das die Ausnahme und nicht der Regelfall. Die meisten Menschen sind von ihren Gefühlen abgeschnitten. Das Abgeschnittensein von den eigenen Gefühlen haben die betroffenen Menschen groteskerweise ihren Eltern zu verdanken. Wenn wir als Kinder von unseren Eltern wirklich geliebt worden wären, dann hätte das Unglück auf der Loveparade 2010 niemals in diesem grauenvollen Ausmaß geschehen können.

 

Ich beginne nun mit der grauenvollen Geschichte von Anfang an. Am Anfang stand Herr Schaller, der die Loveparade aus Marketinggründen für seine Fitness-Kette nutzen wollte. Als der Oberbürgermeister von Berlin nicht auf sein Begehren reagierte, hörte er von der Kulturhauptstadt Europas. Der glückliche Umstand wollte es, dass das Ruhrgebiet dafür auserwählt wurde. Das erweckte in ihm natürlich ein starkes Interesse, denn die Kulturhauptstadt Europas bedeutete vermutlich ein noch viel größeres Werbepotenzial als die Bundeshauptstadt. Da die meisten großen Ruhrgebietsstädte sehr arm sind, verkaufte er den Stadtoberhäuptern die Loveparade als das Ereignis, das deren Städte endlich ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit bringen würde. Selbst ein gewisser Herr Pleitgen, der als Cheforganisator der Kulturhauptstadt „Ruhr.2010“ tätig ist, war von der Idee sehr angetan, weil die Metropole Ruhr gerade auch für junge Menschen attraktiv sein solle. Daher wollte er unbedingt, dass die Loveparade 2010 in Duisburg stattfinde. Das musste Herrn Schaller sehr gefallen haben, denn nun hatte er einen gesellschaftlich hoch angesehenen Fürsprecher. Es wurde der alte Güterbahnhof in Duisburg gefunden. Als die Planungsprotokolle noch nicht in der Öffentlichkeit bekannt waren, dachte ich zuerst, Herr Schaller wäre hauptsächlich einer fatalen Fehlwahrnehmung unterlegen gewesen, die tragischerweise 21 jungen Menschen das Leben kostete. Seine offensichtliche Gefühlsunterdrücktheit hätte seine Wahrnehmungsfähigkeit derart getrübt, dass er eine Großveranstaltung mit mehr als eine Million Menschen an einem dafür völlig ungeeigneten Ort stattfinden ließ. Denn das Nadelöhr des Zugangstunnels erlaubte niemals einen Massenzulauf von zigtausenden Menschen, geschweige denn ein gleichzeitiges massenweises Verlassen. Jeder aufmerksame Beobachter konnte das erkennen. Doch nun offenbaren die bekannt gewordenen Planungsprotokolle eine noch viel üblere Rücksichtslosigkeit von Herrn Schaller. Er wurde nämlich von der Polizei immer wieder auf die Problematik des Zugangstunnels aufmerksam gemacht. Hierauf antwortete er mit knappen Worten, es werde schon alles reibungslos ablaufen. „Wir haben da unsere Erfahrungen.“ Herr Schaller pflegt sich immer im Plural auszudrücken, sofern er von eigenverantwortlichem Handeln redet. Falls es sich tatsächlich so zugetragen haben sollte, hätte er die vorhersehbaren Todesfälle in Kauf genommen und nach strafrechtlicher Wertung sogar vorsätzlich gehandelt.

 

Jetzt muss die Frage gestellt werden, warum Herr Schaller so rücksichtslos handeln konnte. Diese Frage muss deshalb gestellt werden, damit ein solch grauenvolles Vorkommnis sich nicht wiederholt. Wäre Herr Schaller als Kind wirklich von seinen Eltern geliebt worden, hätte er sich zu einem mitfühlenden Erwachsenen entwickelt. Er hätte dann nicht den machtvollen Drang verspürt, möglichst viel Geld zu verdienen und als hoch angesehene Persönlichkeit in der Gesellschaft gelten zu wollen. Er wäre dann auch nicht nur darauf fixiert gewesen, seine Interessen skrupellos durchzuboxen. Auf die verschiedenen lebensgeschichtlichen Prägungen, wie etwa geschlechtsspezifischer Art oder mit welchem Elternteil sich das Kind hauptsächlich identifiziert, möchte ich hier nicht näher eingehen, weil es sich bei den hier beteiligten verantwortlichen Personen ausschließlich um Männer handelt, die unverkennbar zwanghaft dem Pfad ihrer grandiosen Väter folgen. Herr Schaller lernte offenbar schon ganz früh von seinem Vater, dass nur der Mächtige und Rücksichtslose sich durchsetzen könne. Die Eltern stellen für jedes Kind den Mittelpunkt der Welt dar. Das Kind kennt ursprünglich nichts anderes als das, was sie ihm vorleben und predigen. Auf diese Weise verinnerlicht es, dass es deshalb streng erzogen werden müsse, weil es selbst angeblich böse sei. In Wirklichkeit ist es gar nicht böse, sondern seine von ihm geliebten Eltern. In der Verdrehung der Wirklichkeit liegt der Ursprung, warum die meisten Menschen unter Wahrnehmungsverzerrungen leiden und das Ursache-Wirkung-Prinzip stets auf den Kopf stellen. Da das Kind am Lebensbeginn absolut von seinen Eltern abhängig ist und ihnen vorbehaltlos glaubt, sie machten schon das Richtige mit ihm, passt es sich ihnen so gut an, wie es vermag. Seine Eltern verkaufen ihm perfiderweise ihr missachtendes Verhalten als Liebe. Deswegen behaupten gerade die ehemals sehr streng erzogenen Menschen, sie hätten eine schöne Kindheit und liebevolle Eltern gehabt. In Wirklichkeit waren jedoch ihre Eltern lieblos und haben sie genauso zu lieblosen Menschen gemacht. Erst wenn Herr Schaller anfängt zu fühlen, was es ihm einst als kleiner Reiner ausgemacht hat, ausgerechnet von seinen geliebten Eltern lieblos behandelt worden zu sein, dann weiß er wieder, was ihm gut tut und was nicht. Dann kann er auch in seine Mitmenschen einfühlen, was ihnen gut tut und was nicht.

 

Im weiteren Verlauf der grauenvollen Geschichte stehen die anderen beteiligten Verantwortlichen, die etwas Ähnliches als Kinder durchgemacht haben müssen wie Herr Schaller, seien es Herr Pleitgen, der Oberbürgermeister von Duisburg, der stellvertretende Polizeipräsident usw. Sie alle waren blind für die völlige Ungeeignetheit des stillgelegten Güterbahnhofs. Sie fühlten einfach nicht die große Gefahr für ihre Mitmenschen.

 

Am Ende stehen die Besucher der Loveparade, die in Massen auf das Gelände des stillgelegten Güterbahnhofs strömten. Jeder von ihnen brachte seine persönliche Lebensgeschichte mit in den Ansturm. Auch sie müssen ähnliche Erfahrungen in ihrer Kindheit gemacht haben, wie die oben erwähnten Männer. Auch bei ihnen herrschte beim Ansturm das in der Kindheit verinnerlichte Prinzip vor, der Stärkere werde sich schon durchsetzen. So erstaunt es nicht, dass die meisten Todesopfer Frauen waren. Dennoch verhielten sich die Besucher nicht so, wie es einige gefühlsunterdrückte Wissenschaftler im Nachhinein behaupteten. Einer von ihnen, der sich einen Namen zu machen versuchte und dies auch schaffte, als es um die Sicherheit der Fußballstadien während der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland ging, war auch am Sicherheitskonzept der Loveparade 2010 beteiligt, wie ein internes Protokoll belegt. Dieser eingefrorene Mann behauptete kurz nach dem grauenvollen Ereignis, der Tunnel sei groß genug für den Ansturm von zigtausenden Menschen gewesen. Es gebe aber immer Menschen, die sich nicht an die Spielregeln hielten. Kurz vor dem Unglück hätten einzelne Jugendliche ein Gitter überrannt und seien eine ungesicherte Treppe hochgelaufen. Einige von ihnen seien dann aus einer Höhe von acht bis zehn Metern von dieser Treppe nach unten gestürzt. Dass „Menschen von oben herunterfallen“, sei als Möglichkeit überhaupt nicht in dem Sicherheitsplan vorgesehen gewesen. Einen Tag später meinte er auf einmal kleinlaut, er sei doch gar nicht für das Sicherheitskonzept beauftragt worden. Es stellte sich nämlich im Nachhinein heraus, dass sämtliche Behauptungen dieses Wissenschaftlers falsch waren. Plötzlich tauchten andere Wissenschaftler auf, die von Massenturbulenzen faselten. In einer Menschenmenge würden erdbebenartige Schockwellen entstehen. Der Einzelne verlöre dabei jede Kontrolle und werde hin- und hergeworfen. Wenn man Menschen wie Dominosteine oder wie Roboter aus Fritz Langs Film Metropolis betrachtet, dann mag das vielleicht zutreffen. Jedoch sind Menschen weder Dominosteine noch Roboter. Auch der Gefühlsunterdrückteste ist das nicht, weil seine Emotionen trotz allem noch aktiv sind, wie die veröffentlichten Videosequenzen von der Massenpanik belegen.

 

Wenn aber unter diesen vielen Menschen jemand Einfühlungsvermögen für seine Mitmenschen aufbringt, dann passiert das Außergewöhnliche. Ein Student filmte nicht nur die Vorkommnisse, sondern half mit seiner kräftigen Statur einem hoffnungslos unterlegenen Mädchen. Er hielt so lange ihre Hand, bis sie in Sicherheit war. Zwei andere Schwerverletzte versuchte er noch zu reanimieren, schaffte es aber nicht. Unter fühlenden Menschen wäre die helfende Tat des Studenten das Selbstverständlichste der Welt gewesen. Sein Video zeigte dennoch auch, wie uniformierte Sicherheitskräfte die einzige aus dem Chaos führende Treppe mit ihren bulligen Leibern eher blockierten, als den verzweifelten Menschen zu helfen. Nur einer von ihnen, der viel weiter unten stand, half. Die anderen standen einfach nur herum und taten nichts. Es kommt demzufolge darauf an, wie man das Wahrgenommene interpretiert. Die Interpretation des aktuell Wahrgenommenen vermischen die meisten Menschen unbewusst mit frühen verdrängten lebensgeschichtlichen Erfahrungen. Offenbar hatte den besagten anderen Sicherheitskräften auch niemand geholfen, als sie in der frühen Kindheit wehrlos vor ihren drohenden Eltern standen. Dagegen ruft das Wahrgenommene bei fühlenden Menschen bewusst aktuelle Gefühle und Emotionen hervor, die zu angemessenen Handlungen führen. Darum half der Student dem Mädchen aus seiner Not und versuchte, die beiden anderen Schwerverletzten zu reanimieren. Er interpretierte in diesem Augenblick gar nichts.

 

Für unser gesamtgesellschaftliches Wohlbefinden hängt es zwingend davon ab, wie wir mit unseren Kindern umgehen!

 

© Michael Dressel, 29.7.2010