Diesen Leserbrief schrieb ich unmittelbar nach Erscheinen des Artikels von Christian Geyer. Mein Leserbrief wurde aber niemals veröffentlicht. Andere Leserbriefe, die Alice Miller für Ihr Lebenswerk verteidigten und sich zurecht über den Autoren der FAZ aufbrachten, wurden dagegen veröffentlicht. Doch meine Kritik richtete sich auch direkt an die Verantwortlichen, also an die Chefetage, weswegen er wohl nicht veröffentlicht wurde.

 

MD, 5/2010

 

Leserbrief an die FAZ vom 25.4.2010

anlässlich des Artikels „Misshandlung überall“ von Christian Geyer, FAZ, 23.4.10 über den Tod von Alice Miller (14.4.2010)

 

Guten Tag,

 

ich nehme an, Sie halten Ihre Zeitung für eine journalistische Bereicherung im deutschen Sprachraum. Doch hält Ihr eigener Anspruch Ihner tatsächlich erbrachten journalistischen Arbeit stand?

 

Ich meine, dass Sie als verantwortliche Geschäftsführer und Redakteure der gleichen Wahrnehmungsverzerrung wie Christian Geyer unterliegen und eben deshalb Ihren eigenen Ansprüchen nicht standhalten können. Sonst hätten Sie ihm niemals die Möglichkeit gegeben, in Ihrem Blatt eine Art persönlichen Rachefeldzug als Nachruf zu verkleiden. Wie kann es sein, dass Sie diesem Menschen, der noch nicht einmal die einfachen und klaren Aussagen in Alice Millers Büchern versteht, ein weitläufiges Sprachrohr geben? Wahrscheinlich hat er nie eines ihrer Bücher gelesen, sondern lediglich nur das aufgeschnappt und nachgeplappert, was er aus anderem Mund als Bekräftigung für sein eigenes Unverständnis auffassen kann. Er faselt von einer „hemmungslosen Vereinfachung komplexer entwicklungspsychologischer Konstellationen“. Was meint Herr Geyer mit diesen abstrakten und wenig aussagekräftigen Worten konkret? Er wirft Alice Miller sogar eine „unbeirrbar reduktionistisch verfahrende Aggression“ vor. Sind Sie so blind und gefühlsmäßig abgestumpft, dass Sie diese grobe Beleidigung gegenüber einem Menschen, der stets das Wort den geschundenen Kindern unserer Welt gab, nicht merken? Am Ende überschlägt sich Herr Geyer mit hanebüchenen, in sich widersprüchlichen und unverständigen Aussagen wie beispielsweise, man „dürfe doch nicht gegen die Lebensberichte Kinderleid unterstellen“, „der Gesunde demnach unter den Kranken derjenige ist, der am schlimmsten dran ist“, „wer sein frühes Leid bestreite, fliehe vor ihm“. Alice Miller trägt nach Auffassung von Herrn Geyer sogar einen „ungeschminkt totalitären Zug“. „Ihre Antriebskraft verdanke sich einer lebenslangen Verstörung, die sie als Quelle ihrer Produktivität nicht etwa therapieren, sondern kultivieren wollte.“ Diese Verhöhnung, die offenbar den Menschen Alice Miller völlig entwerten will, obwohl sie in klaren Worten erklären konnte, weshalb unsere Welt so tickt, wie Sie sie jeden Tag in Ihren unzähligen Artikeln beschreiben, fasse ich als vorsätzliche Persönlichkeits-

verletzung auf und werde das der Familie Miller berichten. Herr Geyer bezeichnet Alice Millers Verteidigung für Kinder als Verstörung. Absurder geht es nicht. 

 

Der von Herrn Geyer öffentlich gemachte Rachfeldzug gegen Alice Miller spiegelt sich stellvertretend in seinem Satz wider: „Wer sein frühes Leid bestreite, fliehe vor ihm.“ Dass Herr Geyer vermutlich schon sehr früh diesem Leid durch seine Eltern ausgesetzt war, untermauert er mit der Auswahl seines Feindbildes. Ausgerechnet die Person, die sich schützend auf die Seite des kleinen Christians gestellt hätte, ist seinem abgespaltenen Hass ausgesetzt. In Wirklichkeit flieht Herr Geyer jetzt nicht vor seinem Leid, sondern er hat dieses  Leid als das Selbstverständlichste verinnerlicht, weil seine Eltern ihm als Kind es so vorlebten und er noch nichts anderes kannte. Natürlich wollte auch der kleine Christian, wie jedes andere Kind auch, eine freudvolle Beziehung zu seinen geliebten Eltern und passte sich ihnen so gut an, wie er es vermochte. Darum darf Herr Geyer seitdem alles nur aus deren Sicht sehen. Den kleinen Christian lässt er einfach allein im Elend stehen. Aufgrund der aufgezwungenen Anpassung sind seine Wahrnehmungen massiv verzerrt und seine reaktiven Gefühle von den Verursachern, seinen Eltern, abgespalten. Deshalb kann er als Erwachsener einfachste logische Zusammenhänge nicht begreifen. Wie könnte er sonst den absurden Satz aussprechen: „Der Gesunde ist demnach unter den Kranken derjenige, der am schlimmsten dran ist.“ 

 

Mit beklemmenden Eindrücken verabschiede ich mich von Ihnen

 

Michael Dressel