Brief an Paul Spiegel vom 1. Oktober 2000

Sehr geehrter Herr Spiegel,

 

Sie haben nicht nur völlig recht, sondern Sie sprechen geradezu eine Binsen­weisheit aus, wenn Sie sagen, niemand werde als Antisemit oder als Frem­den­­­­hasser geboren. Leider führen Sie nur vage Andeu­­­­­­­tun­­­gen über etwaige Gründe der Fremdenfeindlichkeit an. Natürlich ist es wahr, daß fremdenfeindliche Einstellungen gegenüber bestimmten Volksgruppen menschenverachtende Meinungen hervorrufen. Aber dieses Phänomen kann man nur dann verstehen, wenn man sich aufmerksam die Lebensgeschichte eines jeden Fremdenhassers anschaut. Es braucht nämlich den dazugehörigen psychischen Nährboden, damit ein Mensch sich von fremdenfeindlichen Parolen angesprochen fühlt. Das bedeutet konsequenterweise, je mehr Menschen einen solchen psychischen Nährboden vorfinden, desto größer ist die gesellschaftliche Breitenwirkung der Fremdenfeindlichkeit.

 

Ist es diesbezüglich nicht zutiefst erschreckend, wie sich zwei junge Dessauer Mädchen beängstigend gleichgültig über die Ermordung von Alberto Adriano auslassen? Er sei ja schließlich kein Deutscher gewesen. Die Gesichter der beiden Mädchen sehen ausdruckslos und entstellt aus. Was macht sie so empfindungslos angesichts der Ermordung eines Mitmenschen? Der Grund dafür kann nur die erlittene Gewalt in der frühen Kindheit sein und die damit verbundene Unterdrückung der reaktiven Gefühle des Schmerzes und der Wut.

 

Bei näherem Hinschauen entdecken Sie, daß das gesellschaftliche Bewußtsein noch weit davon entfernt ist, das ubiquitäre Elend von Kindern in deren familialen Umfeld wahrzunehmen. Das ist auch gar kein Wunder, denn wer erinnert sich schon gerne daran, daß er von seinen Eltern weder geachtet noch als diejenige Person respektiert wurde, die er ursprünglich von Natur aus einmal war. Darum kann hier von elterlicher Liebe gar keine Rede sein. Das Verdrängen der schrecklichen Erfahrungen in der eigenen Kindheit macht die betroffenen Menschen zu emotional erstarrten Monstern, die keinerlei Einfühlung in das Leid anderer Menschen aufbringen. Sie mußten ihren Schmerz tief begraben, um in dem Terror des Erziehungsalltags überleben zu können. Davon sind natürlich nicht nur deutsche Kinder betroffen, sondern auch israelische bzw. jüdische und viele andere auch.

 

Ihre zum Ausdruck gebrachte Empörung über den Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge, die selbstverständlich völlig zu Recht geschieht, könnte man leicht als Hinweis einer möglichen Doppelmoral auffassen, wenn am selben Tag israelische Soldaten mehrere Palästinenser erschießen. Zugegeben, eine solche Analogie erscheint im ersten Augenblick nicht so recht einleuchtend, denn von der Synagoge ging sicherlich kein Angriff aus, wovor die Jugendlichen sich hätten wehren müssen. Dennoch meine ich, daß ein eventu­elles Notwehrrecht gegen Steine werfende Palästinenser niemals gezielte Todes­schüsse rechtfertigen. Auf tragische Weise kam dabei ausgerechnet ein kleiner palästi­­­­­­nen­­sischer Junge ums Leben, dessen unbewaffneter Vater ihn vergeblich vor den Maschinengewehr­salven zu schützen versuchte. Den 15-jährigen Tätern aus Düsseldorf sowie den israelischen Solda­ten fehlen offenbar die emotionale Kompetenz, ihr Tun als destruktives Verhalten zu werten. Das macht sie zu willfährigen Tätern, die gedankenlos andere Men­schen schädigen oder sogar töten. Gleichwohl ist die Situation der Juden in Israel sicherlich eine andere als die der in Deutschland, welche bekanntermaßen friedliebende Menschen sind. Insofern ist die ange­sproche­ne Analogie, die ihre zu Recht vorgetragene Empö­rung bloß relativieren würde, in der Tat unpassend. Im übrigen ist es nur zu ver­ständ­lich, wenn Brandanschläge auf jüdische Einrich­tungen bei den in Deutsch­land beheimateten Juden unheil­volle Erinnerungen an die Reichspogromnacht des Nazi-Deutschlands wachrufen.

 

Solange die Blindheit in der Gesellschaft anhält hinsichtlich der an Kindern alltäg­lich praktizierten Grausamkeiten durch die eigenen Eltern, wird sich nichts am Antisemitismus, an der Xenophobie und letztlich am Haß gegenüber dem Leben ändern.

 

Vielleicht kennen Sie die psychologische Studie über die Elitetruppe der USA, den Ledernacken, die sich besonders durch ihre erbarmungslose Härte im Kampf auszeichnet. Ausnahmslos alle Soldaten dieser sogenannten Eliteeinheit hatten eine ausgesprochen brutale und gefühlsvernichtende Kindheit. In Anbetracht der neuesten hirnphysiologischen Forschungsergebnisse verwundert die Gewaltbereit­schaft dieser Soldaten keineswegs. Denn derjenige, der Läsionen oder psychisch bedingte Schädigungen in jenen Regionen des Gehirns aufweist, welche für die Emotionen und Gefühle zuständig sind, kann keine adäquaten Wertungen über sein Handeln vornehmen. Damit liegt nun endlich der längst fällig gewesene naturwissenschaftliche Beweis für die überragende Bedeutung der menschlichen Emotionen und Gefühle vor, was von engagierten Psychologen schon vor Jahrzehnten auf empirische Weise vorgebracht wurde. Der Mensch muß sich seiner Natur entspre­chend angstfrei und lebensbejahend entwickeln können, damit er so etwas funda­mental wichtiges wie die Empathie für seine Mitmenschen auf­bringt. Diese Weichenstellung bedingt unser Überleben entscheidend. Eine solche idealty­pische Entwicklung wird jedoch meistens schon bei der Geburt des Menschen torpediert. Wer schon einmal Zeuge einer sanften Geburt war, insbesondere einer Unterwassergeburt, dem wird das entspannte erste Lächeln des gerade Neugeborenen nie mehr aus dem Kopf gehen. Was für einen herzzerreißenden Kontrast stellt dasjenige schreiende, schmerzverzerrte Baby dar, das im Krankenhaus! in einer absolut menschenunwürdigen Umgebung geboren wird. Das darauf folgende Verhalten der Eltern zu ihrem Kind bestimmt den Weg, den der erlittene Schmerz über die fürchterliche Geburt nimmt: Muß er verdrängt oder kann er authentisch gefühlt und adäquat betrauert werden?

 

Kinder sind keine asozialen Egoisten, wie Melanie Klein groteskerweise aus einer kognitiv dissoziativen Sichtweise heraus behauptet. Sie sind tatsächlich mitfühlende und wißbegierige Wesen, denen das Befinden ihrer nächsten Bezugspersonen sehr wichtig ist, immer davon ausgehend, daß diese Kinder in ihrer emotionalen Entwicklung nicht bereits nachhaltig geschädigt wurden.

 

Sie kennen sicherlich aus eigener Erfahrung das grausige Ritual der Beschnei­dung, das als hygienische Maßnahme oder als Beweis für die Zugehörigkeit zum Judentum beschönigt wird. Warum sollte ein männliches jüdisches Baby ausgerechnet mit etwas angeblich so Nutzlosem oder Verwerflichem wie die Vorhaut geboren werden? Die zum Glück mehrheitlich gesunden unbe­schnittenen männlichen Babys beweisen, daß das Ritual der Beschneidung eine völlig sinnlose, schmerzhafte Amputation ist, deren Verharmlosung in der kindlichen Gefühlswelt die besagten destruktiven Folgen verursachen kann. Vor allem dann, wenn diese Amputation, wie üblich, ohne Betäubung geschieht. 

 

Lieber Herr Spiegel, solange einfacher(!) sexueller Mißbrauch an Kindern gem. §176 StGB nur als Vergehen bestraft wird, dagegen dieselbe Tat an Erwachsenen gem. §177 StGB als Verbrechen, ändert sich nicht ein Jota an der gesellschaftlich immer noch vorhandenen latenten Mißachtung gegenüber dem Kind und an der Geringschätzung der psychischen Integrität des Menschen in den ersten Lebensjahren. Ich bin Jura-Student und kenne meine mehrheitlich sehr angepaßten Kommilitonen gut, die sich über solche Dinge nicht den Kopf zerbrechen, aber trotzdem (oder vielleicht deswegen?) zum Teil sehr gute Studenten sind. Selbst in der rechtswissen­schaftlichen Lehre ist das Thema der Kindesmißhandlung ein Tabu. Unser Strafrechtsprofessor meinte beiläufig zum leider noch immer nicht existierenden Züchtigungsverbot als Straftatbestand, es sei schließlich nicht nachvollziehbar, wenn bei jedem „harmlosen Klaps“ Strafe drohe. Diese verantwortungslose Verharmlosung von Gewalt an wehrlosen Kindern scheint offenbar zum guten Ton von lehrenden Multiplikatoren unserer Gesellschaft zu gehören. Schweden nimmt da eine kinderschutzfreundliche Vorreiterrolle ein. Dort wurde vor 20 Jahren die Züchtigung unter Strafe gestellt. Damals waren 80% der schwedischen Bevöl­kerung gegen das Züchtigungsverbot, heute sind es nur noch 10%. Das verdeutlicht den gesellschaftlichen Bewußtseinswandel in einer Zeitspanne von nur 20 Jahren aufgrund einer wertenden Betrachtung, die die Züchtigung von wehrlosen Kindern als grobe Mißachtung und dauerhafte psychische Schädigung verurteilt. Denn was lernt ein Kind durch die Züchtigung? Es lernt, der Schwächere verdiene keinen Respekt und damit perpetuiert sich der Teufelskreislauf der Gewalt von Generation zu Generation.

 

Übrigens, Ihre entlarvende Beobachtung, daß einerseits auf der Hunde­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­hal­terdemonstration zigtausende von Menschen anwesend waren, während  andererseits die Demonstration gegen rechte Gewalt nur wenige hunderte Menschen mobilisierte, berührt ein unsägliches Kapitel deutscher Geschichte. Auch in der Familie von Alois Hitler stand der kleine Adolf in der Familienhierarchie noch unter dem geliebten Schä­­­­­­ferhund. In diesem Fall entlud sich der unbändige Haß Adolfs, der eigent­lich seinen Eltern galt, aber niemals bewußt gefühlt und geäußert werden durfte, auf vernichtende Weise gegen ganze Völker und vor allem gegen Juden. Gerade das Beispiel Adolf Hitlers steht für die Verachtung der Lebendigkeit und Kreativität des Kindes, was Alice Miller vortrefflich in ihrem Buch „Am Anfang war Erziehung“ aufdeckte. Daß diese Erkenntnisse trotz der neuesten Entdeckungen der Neurophysiologie noch immer nicht in aller Munde sind, halte ich für das größte Menetekel unserer Gesellschaft, das uns noch viel Leid bringen kann.

 

Es bestürzt mich zutiefst und es überfällt mich eine unendliche Trauer, wenn ich Bilddokumente sehe, wo Juden von Nazischergen kaltblütig ermordet wurden. Mit dem größten Befremden und Unbehagen muß ich feststellen, daß der beinahe durchgeführte Genozid am jüdischen Volk zu meiner Heimatge­schichte gehört. Die nackten, geschundenen, ausgezehrten jüdischen Leichen mahnen mich daran, die Ursachen der menschlichen Destruktivität stets beim Namen zu nennen und als bestialische Monströsität zu verurteilen, weil deren Auswirkungen alle Bereiche unserer Gesellschaft durchziehen. Darum finde ich es erfreulich, daß eine erhebliche Anzahl von Juden ihre Heimat in Deutschland gefunden hat.

 

Ich werde mich weiterhin in Zukunft vehement für die Rechte der Kinder einsetzen und hoffe, dabei mithelfen zu können, daß der Antisemitismus und der Fremdenhaß eines Tages für alle Zeit der Vergangenheit angehören werden. Wer als Kind von seìnen Eltern wirklich geliebt und respektiert wird, läuft nicht Gefahr, destruktive Impulse zu entwickeln und diese später gegen Sündenböcke auszuagieren. Alle Eltern müssen sich deshalb darüber bewußt sein, welch große verantwortungsvolle Aufgabe sie für die Menschheit auf sich nehmen, wenn sie Kinder in die Welt setzen. Dann werden wir uns nicht mehr fragen müssen, warum die Welt durch die Augen der Kinder weint.

 

Mit freundlichen Grüßen


Michael Dressel

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