Das war mein erster Brief an Alice Miller, nachdem ich ihr Buch Abbruch der Schweigemauer gelesen hatte. Sie antwortete mir sehr schnell, was mich sehr überraschte, und sie machte mir Mut für mein Vorhaben, ein Buch zu schreiben. Sie unterließ es dabei nicht, enthusiastisch Konrad Stettbacher zu empfehlen, von dem sie sich jedoch später entschieden distanzierte. Damals sah ich in ihr die gute Mutter, die ich mir immer so sehr wünschte.

 

MD 10/2013

 

Brief an Alice Miller vom 15.3.1990

Liebe Frau Miller!

 

Ich finde es sehr erstaunlich, daß eine Frau in Ihrem Alter Bücher wie Das verbannte Wissen oder Abbruch der Schweigemauer mit einer solch faszinie­renden sprachlichen Transparenz schreiben kann, zumal Sie ein Thema berühren, bei dem die meisten Menschen anfangen zu stottern oder sich plötzlich seltsam kompliziert und schwer verständlich ausdrücken.

 

Wenn ich meine 63jährige Mutter sehe, die noch heute ihre Verantwortungs­losigkeit und Lieblosigkeit als Mutterliebe preist und mir Undankbarkeit vorwirft, dann weiß ich, daß es überhaupt gar keine Versöhnung zwischen ihr und mir geben kann, gerade weil sie ihr Verhalten gar nicht in Frage stellt, sondern im Gegenteil sich noch immer im Recht fühlt und die ganze Schuld auf mich schiebt. So sagt sie z.B. mit aller Selbstverständlichkeit: Du bist doch Deine eigene Ursache.

 

Was ich allerdings an Ihnen noch beeindruckender finde, ist Ihre persönliche Entwicklung seit dem Erscheinen Ihrer ersten Bücher vor 11 Jahren bis zum letzten in diesem Jahr zu einem immer mehr unvoreingenommenen Blick für die unermeßlichen Qualen, Demütigungen und Folterungen, denen Kinder noch heute pausenlos durch die eigenen Eltern ausgesetzt sind.

 

Als ich 1981 Ihr Buch Am Anfang war Erziehung las, kamen mir bei Jürgen Bartschs Lebensgeschichte die Tränen, so empörend empfand ich die ihm zugefügten ungeheuerlichen Grausamkeiten. Seine ausweglose Hoffnungslosigkeit angesichts des unvorstellbar grausamen Verhaltens seiner Eltern trieb ihn dazu, 4 unschuldige kleine Jungs auf grausamste Weise abzuschlachten.

 

Sicherlich sind Ihre Bücher in ihrer kompromißlosen Radikalität, die Wahrheit auszudrücken, einmalig. Sogar junge Autoren in meinem Alter scheuen davor zurück, in dieser ungeschminkten Form das allgemeine Leiden von Kindern durch deren Eltern anzuklagen. Ursula Enders meint z.B. in ihrem Buch Zart war ich, bitter war’s, sexueller Mßbrauch an Mädchen und Jungen müsse vom seelischen Mißbrauch an denselben Kindern grundsätzlich unterschieden werden. Auch in Nele Glöers und Irmgard Schmiedekamp-Böhlers Buch Verlorene Kindheit fehlt die letzte Konsequenz, die Eltern für die am eigenen Kind begangenen Verbrechen eindeutig verantwortlich zu machen. Da lesen sich Bücher von Pädagogen wie z.B. A.S. Neill oder Janusz Korczak viel schonungsloser, was die mißbrauchenden Eltern anbelangt. Fast schon peinlich dagegen sind die starrköpfigen, urgroßväterlichen Weisheiten eines Helm Stierlin, der in seinem Buch Individuation und Familie folgendes über Sie schreibt: Sie [Alice Miller] reduziert komplexe Wechsel- und Kreisprozesse auf ein falsches oder böses Verhalten der Eltern und wird dadurch deren schwierige Aufgabe, sowohl eine ‚Individuation mit‘ mitzuvollziehen als auch eine ‚Individuation gegen zuzulassen, kaum gerecht.

 

Was die Schonung bzw. Idealisierung der Eltern anbelangt, möchte ich Ihnen für die Deutschen ein noch immer aktuelles, insbesondere ein sie unmittelbar betreffendes Beispiel aufführen:

 

… Was man hatte, war – verhältnismäßig – sicher, das Gesetz des Maßhaltens, des Einschränkens, des Verzichtens war aber immer gegenwärtig. Es regulierte den Alltag von morgens bis abends … Und … [meine Mutter] hatte ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich bei einem Stadtgang eine Tasse Kaffee leistete … Extrawürste wurden für niemand gebraten; jeder hatte sich an das zu halten, was auf den Tisch kam … Vater ließ sich ein Bier ins Haus holen … Für öffentliche Festivitäten war wenig Geld da … Den Urlaub verbrachte … [mein Vater] zu Hause, meist im Garten arbeitend. Allenfalls fuhren wir einmal zu unseren bäuerlichen Verwandten in Unterfranken. Aber auch dort hieß es dann, zufassen und mithelfen – ein Gebot, das auch für uns Kinder galt. Ich habe 1945, als ich – einigermaßen ausgehungert – in Unterfranken ein landwirtschaftliches Praktikum absolvierte, davon profitiert. Auch die häuslichen Feste in meinem Elternhaus waren dem Gesetz des Maßhaltens unterworfen … An meinen Geburtstagen hatten wir immer ein volles Haus. All meine Spielkameraden stellten sich dann pünktlich ein, und ich hatte viele Freunde, schon weil der große Garten und das angrenzende ‚freie Feld‘ zu ausgelassenen und lautstarken Streichen lockten …

 

Höhepunkt des festlichen Mals [zu Weihnachten] war die delikat gefüllte, schön gebräunte Weihnachtsgans … eine Tatsache, an die ich mich nicht zuletzt deshalb erinnere, weil ich schon in meinen frühen Jahren kein Freund von Geflügel war und weil es vorkam, daß mir – ausnahmsweise und nur, weil Weihnachten war – eine Extrawurst in Gestalt einer Rindsroulade gebraten wurde … Mein Vater wurde … als erfahrener Frontoffizier des Ersten Weltkrieges noch einmal eingezogen … Mutter wurde nun also für uns Kinder die Bezugsperson. Sie stellte sich dieser Aufgabe, ohne zu murren, ohne zu klagen, mit all der Arbeitskraft, die sie aufzubringen vermochte … ich bewundere sie noch heute dafür …

 

Und bereits als Zwölfjähriger gehörte ich einem Schülerlöschtrupp an, der nach den vielen Luftangriffen, die Ludwigshafen erdulden und erleiden mußte, die Feuer in der Stadt bekämpfte, mit primitiven Gerät, aber großen Elan und jugendlicher Verwegenheit; unerfahren aber risikobereit … Der Krieg beendete meine bis dahin kaum getrübte Kindheit abrupt und gnadenlos …

 

Mein Elternhaus war, wenn ich es in einem Satz sagen darf, katholisch, aber gleichzeitig liberal … Beide Elternteile nahmen ihren Glauben, ihre Religion ernst, auch die Praktizierung der Religion. Die katholische Kirche war für sie die schützende und gleichzeitig schöpferische Mitte, die Gottvertrauen und Lebenstüchtigkeit, Gelassenheit und Beharrlichkeit vermittelte. Vor allem für meine Mutter war ihr Glaube Mittelpunkt ihres Daseins. Sie kannte sich nicht nur in der Bibel aus, sondern auch im Leben der Heiligen, die sie je nach Bedarf und Zuständigkeit anrief; sie ging regelmäßig beichten und übte die vorgeschriebenen Riten sorgfältig und gewissenhaft aus …

 

Daß man national war, verstand sich ebenfalls von selbst … Die Eltern fühlten sich dem Vaterland, in das sie hineingeboren waren, verbunden, sie identifizierten sich mit seinen Interessen, … sie hatten die Daten der deutschen Geschichte im Kopf, sie waren stolz auf die kulturellen Leistungen ihres Volkes … Ihre Werteskala war eindeutig christlich bestimmt … Der Nazismus konnte deshalb keinen Eingang in mein Elternhaus finden. Dort gab es kein Nährboden für totalitäre Ideologien. Mein Vater trat 1933 sogar aus dem ‚Stahlhelm‘ aus, … in dem er sich bis dahin auch als engagierter Zentrumswähler wohl gefühlt hatte …

 

Noch etwas war in meinem Elternhaus zu lernen: die Bereitschaft, zuzufassen, seine Pflicht ohne große Worte zu erfüllen. Wie so vieles für meine Eltern natürlich und selbstverständlich war, was heute problematisiert, psychologisiert und in Übermaß analysiert wird, so auch dies: Man war für den anderen da, man stand zu seinen Freunden, man half einander, der Mutter in der Küche, dem Vater im Garten, man hatte seine Aufgaben, und man stellte sich ihnen, man erledigte sie. Meine Eltern haben mir vorgelebt, wie sich Pflichtbewusstsein und Fröhlichkeit des Herzens vereinbaren lassen, wie der Einsatz für andere das eigene Leben reicher macht. Und dafür bin ich meinen Eltern dankbar.

 

Derselbe Mann sagt später als Bundeskanzler der BRD folgenden Satz: Ein Volk, das keine Opfer bringt, hätte schon längst seine moralische Kraft verloren. Rudolf Pörtner, der Herausgeber des Buches Mein Elternhaus, das auch Helmut Kohls kurze Autobiographie enthält, resümiert in seinem Vorwort über die Kindheitserinnerungen 42 namhafter Zeitgenossen: Die deutsche Familie war in diesem Jahrhundert nicht nur ein Hort der Ordnung, der Arbeit und des Fleißes, sondern – als es darauf ankam – auch die letzte Zuflucht der Menschlichkeit. Offenbar rekrutierten sich die NSDAP-Wähler aus dieser letzten Zuflucht der Menschlichkeit. Der Herausgeber bat z.B. Kardinal Höffner, Ignaz Kiechle, Otto Wolff von Amerongen usw. Kindheits- bzw. Jugenderinnerungen vor allem während des 3. Reiches zu skizzieren. Das Resultat ist ein idealisierendes Horrorkabinett über das Innenleben deutscher Familien, dem vor allem Menschlichkeit fehlte. Allein Luise Rinser traut sich, ihre Eltern der Lieblosigkeit anzuklagen. Doch in ihrem Schlußwort relativiert sie die zuvor geäußerte Kritik folgendermaßen: … jene Zeit-Härte lehrte uns, selber hart zu sein im Nehmen, und sie vermittelte uns, so absurd das scheint, eine inständige Liebe zum stets gefährdeten und gestundeten Leben … ich wünsche auch gar nicht, in einer Welt aufgewachsen zu sein, auf die ich nostalgisch zurückblicken kann. Ich liebe meine Zeit und das Leben in allen Epochen.

 

Es ist interessant, daß ausgerechnet die Personen, die sich große politische bzw. gesellschaftliche Verantwortung aufbürden, ihre Kindheit als schönes Märchen stilisieren. Den Zustand der Amnesie teilen sie offensichtlich mit dem Großteil der Bevölkerung, sonst würden sie ja nicht von diesem sogar mit absoluter Mehrheit gewählt werden. Andererseits gibt es ein Heer von Psychiatern und Psychologen, die wie die einst Kinderseelen tötenden Eltern im Allmachtsrausch schwebend die Gedanken und Gefühle ihrer Patienten mit Hilfe von Psychopharmaka manipulieren. Und das alles nur deswegen, weil sie sich mit aller Macht davor sträuben, das schöne Märchen vom Kinderglück aufzugeben und endlich der Wahrheit Platz zu verschaffen.

 

Es mag sein, daß sich in jüngster Zeit bei viel mehr Menschen die Erkenntnis über die verheerenden Folgen der traditionellen Kindererziehung durchsetzt, als dies noch während der Jugendzeit meiner Mutter möglich war. Aber meine Erfahrung mit vielen jungen Menschen legt auf erschütternder Weise Zeugnis davon ab, wie die schon als überholt geglaubten Erziehungsprinzipien noch immer den Alltag beherrschen. Ich finde es höchst alarmierend, wenn der Bundespräsident Richard von Weizsäcker ehemals ausgebeutete Kinder wie z.B. Steffi Graf oder auch Boris Becker zu Idolen der deutschen Jugend macht. Das entspricht geradezu einer feierlichen Akzeptanz, wehrlose Kinder für jeden x-beliebigen Zweck ausbeuten zu dürfen.

 

Ich habe vor, ein Buch für junge Menschen zu schreiben, das sich ausschließlich um die Belange deren Alltages beschäftigen soll. Ähnlich wie in Ihrem Buch Am Anfang war Erziehung möchte ich die Kindheit und deren Folgen anhand bekannter Persönlichkeiten, die Idolstatus bei den jungen Leuten haben, schildern. Dabei denke ich z.B. an Steven Spielberg, Madonna, Michael Jackson, Jack Nicholson oder Arnold Schwarzenegger und Politiker wie z.B. Ronald Reagan, George Bush, Michail Gorbatschow, Helmut Kohl, Saddam Hussein, Franz-Josef Strauß oder Richard von Weizsäcker.

 

Ich habe noch einmal meinen Brief durchgelesen und bemerkt, daß trotz der Länge vieles unangesprochen geblieben ist. Mein Anliegen lag vor allem darin, Sie zu bitten, mir bei der Vorbereitung des Buches zu helfen oder auch als Co-Autorin mitzuwirken. Ich bitte speziell Sie darum, weil Sie von den mir bekannten Psychologen die einzige sind, die ohne Wenn und Aber die elterlichen Mißhandlungen an den eigenen Kindern anklagt. Zwar verwenden Sie auch teilweise irreführende psychoanalytische Fachbegriffe, doch Ihre Bücher sind in ihrer Klarheit bisher unübertroffen und sind für mich deshalb eine Verteidigung für das naturgegebene menschliche Potential. Egal, wo ich Kindern begegne, sehe ich sie fast immer unter der totalitären Herrschaft der eigenen Eltern leiden. Kinder brauchen Menschen, die sie vor den eigenen verwirrten Eltern schützen, damit sie nicht später auch zu verwirrten Menschen werden. Da ich nur begrenzte Möglichkeiten für die notwendigen Recherchen habe, möchte ich Sie bitten, mir bei der Realisierung des Buches zu helfen. Vielleicht kennen Sie auch andere Menschen, die bereit sind mitzuhelfen. Wir könnten uns persönlich treffen, die Entfernung ist ja nicht groß.

 

Ich würde mich freuen, von Ihnen zu hören und grüße Sie herzlichst.

 

Michael Dressel