Brief an Steven Graf von Bernadotte anlässlich der Sendung von RTLII „Das Aschenputtel-Experiment" vom 3.10.2015

Lieber Steven Graf Bernadotte,
durch Zufall sah ich auf RTLII, wie sich die Lebenswege eines selbstgefälligen, gut situiert wirkenden jungen Mannes und einer völlig verwahrlosten, verängstigten jungen Frau kreuzten. Die Sendung hieß „Das Aschenputtel-Experiment“. Im wirklichen Märchen muss das Aschenputtel die gröbste Schmutzarbeit verrichten, weil seine Stiefmutter es wie eine niedere Magd behandelt. Eines Tages geht sein Vater auf Reisen und es wünscht sich einen Zweig Haselreis von ihm. Den Zweig Haselreis pflanzt es auf das Grab seiner leiblichen Mutter. Im Verlaufe der Zeit zu einem stattlichen Strauch herangewachsen, erscheint ihm dort ein weißer Vogel, dem es fortan sein bitteres Leid klagt. Der weiße Vogel hilft ihm aus misslichen Lagen, was eigentlich die Aufgabe seines Vaters sein müsste. Den Rest des Märchens mit dem Königssohn kennen wohl die meisten.
 
Zurück zur Sendung von RTLII. Ich habe natürlich nicht mehr jedes gesprochene Wort im Gedächtnis. Sie, Steven Graf Bernadotte, werfen der Mutter vom Aschenputtel vor, dass sie ein völlig versifftes Zuhause habe. Ihr fehle ein strukturiertes Handeln. Vor allem sei ihre Lebensweise völlig verantwortungslos gegenüber ihrem Enkelkind. Hier muss ich Ihnen Recht geben, denn das Enkelkind kann noch keine Vorstellung davon haben, warum sich seine primären Bezugspersonen auf die eine oder andere Weise verhalten. Es kann nur darauf vertrauen, dass alles richtig abläuft. Die Gesichter der Großeltern verraten, dass sie viele Scheußlichkeiten in ihrem Leben erfahren haben müssen. Auch das Gesicht der Tochter, dem Aschenputtel aus der RTL-Fernsehproduktion, verrät dies. Nur das kleine Enkelkind hat noch das süße Gesicht, weswegen es von jedermann als liebenswert empfunden wird. Offenbar auch von Ihnen. In seinen Gesichtszügen zeichnet sich noch nicht das erfahrene zwischenmenschliche Elend ab.
 
Sie, Steven Graf Bernadotte, lassen sich zu heftigen Vorwürfen hinreißen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie es zu diesem desaströsen Zustand kommen konnte. Im Gegenteil, Sie beharren auf Ihrem Selbstverständnis, wo offenbar nur der Schein des schönen Lebens zählt und heucheln zudem, wie hart Sie selbst arbeiten müssten, obwohl Sie das gar nicht tun. Ist doch klar, dass Ihre Vorwürfe nicht unerwidert bleiben, denn ein bisschen Restwürde will sich auch die Mutter des Aschenputtels bewahren. Solche Vorwürfe kennt sie vermutlich seit frühester Kindheit nur zu gut. Da Sie aber nicht ihr Vater sind, traut sie sich zur Gegenattacke. Auf diese Weise wiederholen sie beide ihre Kinderschicksale, ohne es zu merken. Auch die Narben in Ihrem Gesicht verraten Ihr scheußliches Kinderschicksal. Doch Ihre primären Bezugspersonen unternahmen alles, dass ihr scheußliches Verhalten unentdeckt blieb. Deswegen wurde Ihre äußerliche Erscheinung gehegt und gepflegt. Sie sollten ja irgendwann einmal das familiäre Unternehmen möglichst erfolgreich weiterführen. Insofern haben Sie paradoxerweise mit dem Aschenputtel sehr viel mehr gemeinsam als die verängstigte junge Frau, die es ja eigentlich darstellen soll. Ihre Behauptung, Ihr Leben bestünde hauptsächlich aus Spaß, offenbart sich als totale Farce, denn Ihr Gesichtsausdruck drückt alles andere als Spaß aus.
 
Wie wird nun die verwahrloste junge Frau, das Aschenputtel, in Ihrem Berliner Zuhause empfangen? Dort scheinen sich ausschließlich Menschen zu befinden, die seit jeher gelernt haben, dass der äußere Schein die wichtigste Rolle im Leben spielt. Allerdings durften sie nie ein eigenes Empfinden für Geschmack entwickeln. Darum wirken sie äußerlich total aufgesetzt und wie Karikaturen ihrer selbst. Man nennt sie zuweilen auch abschätzig „Proll-Neureiche“, weil ihr Geschmack irgendwie total befremdlich wirkt. Mit ihrer äußeren Erscheinung versuchen sie zu imitieren, wie nach ihrer Vorstellung gut situierte Menschen aussehen. Doch Ihren Freunden fehlt das Wichtigste im Leben: das Einfühlungsvermögen. Sie alle sind völlig blind dafür, was für einen massiv verängstigten Menschen sie empfangen und setzen wie selbstverständlich voraus, dass dieser sich nach ihren Maßstäben verhält. Leider ist das Aschenputtel aus der RTL-Fernsehproduktion überhaupt nicht schön wie das vom Märchen und kann deswegen nicht den Schein des schönen Lebens erfüllen. Darum muss es erst einmal, so gut wie es geht, schön gemacht werden, damit es unter Ihren Freunden ertragbar ist. Eine ehrliche persönliche Anteilnahme am Schicksal der total verängstigten jungen Frau fehlt vollständig. Eigentlich müssten Ihre Freunde den Grund mühelos wahrnehmen können, weshalb das Aschenputtel Probleme hat, sich verständlich auszudrücken. Doch niemand erkennt seine massive Angst. Fühlende Menschen dagegen würden diese sofort erkennen.
 
Auch Sie, lieber Steven, und Ihre Freunde müssen viel Elend erfahren haben. Ihr Einfühlungsmangel gegenüber einer jungen geschundenen Frau offenbart das eindrücklich. Vor allem offenbart das Ihre Heuchelei, wie sehr Ihnen angeblich das Schicksal des Kindes vom Aschenputtel nahe gehen würde. Würden Sie es ehrlich meinen, hätten Sie sich nicht einfach aus dem Staub gemacht. Sie hätten dem Aschenputtel Ihre Hilfe angeboten, damit deren Kind nicht das gleiche scheußliche Schicksal ereilt.     
 
Auf meiner Webseite „Warum weint die Welt durch die Augen der Kinder?“ können sie lesen, wie es zu den schlimmen zwischenmenschlichen Verhaltensformen, die ich Ihnen in diesem Brief beschreibe, kommen kann.
 
Herzliche Grüße
 
Michael Dressel
 
http://michael-dressel.jimdo.com/

 

© Michael Dressel, 3.10.2015

 

 

Antwort:

Steven Graf Bernadotte:

Ich habe mir nicht alles durchgelesen von ihrem Kommentar, aber ich sag mal Amen! Gönne dir ein bissel Aufmerksamkeit.