Ich veröffentliche hier eine E-Mail, die ich an Alice Miller über ihre Homepage am 14. August 2005 schrieb. Leider hat sie mir nie darauf geantwortet. Auf meine Briefe, 15 Jahre zuvor, antwortete sie mir noch, vielleicht weil diese ihr mehr schmeichelten. Ich sah damals als Dreißigjähriger unbewusst die gute Mutter in ihr, die ich mir immer so sehr wünschte. Mein nunmehr kritischer Ton ist vermutlich in der Vorauswahl ihres Teams durchgefallen. Vielleicht wollte man der alten Frau nicht solche kritischen Töne zumuten. Allerdings wäre dann der Inhalt meiner E-Mail völlig verkannt worden. So werde ich wahrscheinlich auf eine Antwort vergeblich warten.

 

MD

 

E-Mail an Alice Miller vom 14.August 2005

Liebe Alice Miller,

 

vor mehr als 15 Jahren schrieb ich Ihnen über mein Vorhaben, ein Buch zu schreiben, das unter anderem die Person Franz Josef Strauss zum Thema haben sollte. Ich bat Sie damals um Mithilfe, da ich nirgends brauchbares Material über seine Kindheit finden konnte. Obwohl mir seinerzeit die Freiburger Universitätsbibliothek mehr als genug Literatur zur Verfügung stellte, fand ich nichts. Sie, Frau Miller, machten mir damals Mut für mein Vorhaben und antworteten mir, dafür brauche es keine besonderen Recherchen, denn das Material liege doch überall herum, nur wage keiner hinzuschauen. Allerdings half mir dieser Hinweis nicht, Franz Josef Strauss als begreifbaren Menschen jenseits seiner grandios insze­nier­­­­­­ten Fassade darzustellen. Er schien seine Kindheit wie ein Staatsgeheimnis vor jedermann zu verbergen.

 

Vor allem gefällt mir Ihre klare und einfühlsame Sprache. Sie sind sehr glaubhaft. Diesen Eindruck habe ich bei Thomas Gruner nicht. Seine Artikel lesen sich mühsam und wirken größtenteils aufgesetzt und wenig authentisch.

 

Damals empfahlen Sie mir jedenfalls, das Buch von Konrad Stettbacher zu lesen, damit ich meine Ängste besser fühlen könne und bei meinem beabsichtigten Buch nicht bloß ins intellektuelle Schwadronieren verfiele. Das machte auf mich im Nachhinein den Eindruck einer standardisierten Werbung für Stettbacher. Es wunderte mich, dass Sie etwa Mitte der neunziger Jahre seinen Namen nicht mehr erwähnten. Erst viele Jahre später entdeckte ich im Internet durch Zufall einen von Ihnen in Englisch verfassten Artikel, worin Sie sich vehement von Stettbacher distanzierten wegen mangelnder fachlicher Qualifikation und sexueller Übergriffe gegen seine Patientinnen. Mich verblüffte es sehr, dass Sie Ihre Leser in so versteckter Weise informierten. Ich hätte von Ihnen erwartet, dass Sie in einem Ihrer zahlreichen Bücher den Fall Stettbacher ganz offen zur Sprache gebracht hätten. Zudem irritierte es mich zutiefst, dass Sie ausgerech­net die fehlende formale Qualifikation beanstandeten, obwohl Sie immer davon sprachen, dass diese Art von Qualifikation kein Einfühlungs­­­­vermögen ersetzen könne. Warum standen bzw. stehen Sie nicht dazu, wie sehr Sie sich in einem Menschen getäuscht haben. Sie sind doch kein unfehl­barer Mensch. Ist es denn schlimm, wenn man sich im Positiven über einen Menschen irrt? Es wird erst dann schlimm, wenn dieser Mensch sich als direkte Gefahr für die eigene Person und natürlich auch für andere Personen entpuppt. Vermutlich haben Sie auf Grund Ihres Verhaltens viele Ihrer Leser verwirrt. Vor allem aber war dieser Vorfall das gefundene Fressen für all die Menschen, die jede Menge Ressentiments aus ihrer Kindheit mit sich herumschlep­pen. Das entnahm ich dem Presseecho. Schließlich mochte ich die Anfeindun­gen gegen Sie nicht mehr kommentarlos hinnehmen und schrieb der Weltwoche Zürich folgenden Leserbrief:

 

guten tag,

ich kannte ihr blatt bis heute nicht. es fiel mir heute aufgrund einer renzension über alice millers buch „revolte des körpers“ auf. sicherlich haben sie sich dabei etwas gedacht, eugen sorg mit leeren worthülsen blindwütig auf eine alte frau schießen zu lassen. was bezweckt dieser mann mit seinen aussagen? will er behaupten, dass wir alle glückliche kindheiten hatten und dass das böse der welt wie ein fluch aus unbekannter herkunft über uns menschen kam? ist das ihr ernst, solch einem menschen in aller öffentlichkeit seine emotionale verkrüppelung zu offenbaren?

 

was hat denn alice miller getan? sie setzt sich für misshandelte kinder ein und zeigt die folgen auf, die die ganze gesellschaft durchziehen bis hin zu ihrem blatt. was beabsichtigen sie mit diesem pamphlet? glauben sie wirklich daran, dass der papst ein unfehlbarer mensch sei, dass kultur nur ausdruck ihrer selbst sei bar eines jeden grundes, dass eltern per se die besseren menschen seien, dass die neuesten erkenntnisse der hirnphysiologie wissenschaftlicher unsinn seien? ist das ihr ausdruck von mitverantwortung, die sie unzweifelhaft als öffentliches sprachrohr haben? gehört es bei ihnen zum guten ton, engagierte menschen zu desavouieren?

 

merken sie nicht, dass sorg die etablierten autoritäten schont und all die menschen, die zurecht revoltieren, mit kühlem intellekt angreift? er mag sich in seiner emotionalen eiszeit einigeln, dann sollte er aber nicht seine psychische verkrüppelung auch noch öffentlich feiern. beweist sorg nicht nur seine psychische, sondern auch seine kognitive verkrüppelung, wenn er scharlatane mit alice miller in verbindung bringt? warum lassen sie einen solchen mentalen „bluthund“ auf eine alte frau los, die doch nur das wort den kindern gibt?

 

offenbar haben sie sich dazu entschieden im chor der „blinden“ mitzusingen. informieren sie sich besser, bevor sie wieder einen menschen wie sorg gegen die menschheit argumentieren lassen. für mich als fühlenden menschen hat ihre zeitung einen unheimlichen eindruck hinterlassen.

 

gruß aus deutschland

michael dressel

 

Mit einem weiteren Brief schrieb ich Ihnen Ende des Jahres 1990, wie ehemals von Ihnen ausdrücklich gelobte Autoren, für deren Bücher Sie sogar Vorworte verfassten, die akribisch aufgedeckten geschichtlichen sowie gesellschaft­lichen Zusammenhänge hinsichtlich der Missachtung des Kindes durch nachfol­­­­­gen­de Werke wieder ungeschehen machten. Diese Autoren unterwarfen sich plötzlich in ihren neuen Büchern brav dem gängi­gen Tenor, Kinder bräuch­ten Grenzen und konsequente Führung. Unter ihnen befanden sich z.B. Carl-Heinz Mallet und Eckehard von Braunmühl. Schon damals hatten Sie wahrscheinlich oft das Gute in Menschen gesehen, das diese dann doch nicht in sich trugen. Jedoch frage ich mich, wie man diesen Umstand Ihnen zum Vorwurf machen kann? Hält man Sie für eine allwissende Göttin, die alles besser weiß und immer Recht hat? Sicherlich meinen das viele Rezensenten von Ihnen. Belena Goizer spricht von Ihrer Analysefreudigkeit, die in ihrer Schlichtheit zuweilen haarsträubend wirke. Freilich ist jedoch der Gedanke interessant, Sie, Frau Miller, würden immer wieder in die Missbrauchssituation Ihrer Kindheit verfallen, indem Sie sich in ständigen Wiederholungen die Leiden der Kindheit neu aufer­­­­­­­­­leg­­­­­­­­­­­­­­­­ten, sei es in ihren Büchern und/oder in Ihren persönlichen Bezie­hun­gen. Das würde allerdings eher das Gegenteil der Ihnen unterstellten Motivation belegen, nämlich die Ausbildung Ihres Einfühlungsvermögens für die familiäre Situation der Kinder durch eigene einschlägige Kindheitserlebnisse. Vor diesem Hintergrund zeigen Sie bezeichnender Weise der Öffentlichkeit seit mehr als 25 Jahren ein völlig veraltetes Foto von sich. Damit unterbinden Sie, dass die Leser Ihre Entwicklung nicht nur geschrieben, sondern auch bildlich wahrneh­men können. Darum war ich ziemlich erschrocken, als ich Sie unvermutet nach dem Anschlag vom 11. September 2001 in einem Fernseh­inter­view sah. Sie wirkten sehr alt, verhärmt und in sich zusammen gesunken. Sie konnten nicht richtig flüssig sprechen und das Zittern Ihres Körpers kaum verbergen. Ich dachte nur, wo ist diese faszinierende, leicht verständliche, flüssige Sprache geblieben? Ich selber weiß aus Eitelkeit, wie schamvoll es sein kann, wenn man in einem ungünstigen Licht erscheint. Dies scheint der Grund dafür zu sein, dass Sie sich nur ungern in der Öffentlichkeit zeigen. Natürlich sind Sie kein Gotteswesen, denn es gibt gar keinen Gott. Sicherlich haben Sie noch viel an Ihrem ehemaligen Leiden aus der Kindheit zu arbeiten. Das kann Ihnen aber nur dann zum Vorwurf gemacht werden, wenn man in Ihnen das perfekte Wesen sieht, das bar jeder seelischer Konflikte ist. Doch Sie selbst sprechen häufig von Ihrer ignoranten, gewalttätigen Mutter und von Ihrer unglücklichen Kindheit. Dennoch muss ich Ihren Kritikern Recht geben, wenn diese Ihre Analysen zum Teil ziemlich oberflächlich und wenig gut recherchiert finden. Sie selbst sagten mir, es brauche keine besonderen Recherchen für ein spannendes Buch. In Ihrem Buch Am Anfang war Erziehung tun Sie Erich Fromm unrecht, denn er wollte mit seiner Hitleranalyse den soziogene­tischen Charakter der mensch­lichen Destruktivität belegen. Gleichwohl ist ihm das nicht gelungen, da er das Phänomen Hitler anhand einer nicht näher erklär­ten und deshalb völlig unnachvollziehbaren bösartig inzestuösen Bindung an die Mutter zu begründen versuchte. Es schien mir, als ob Sie das Buch von Erich Fromm gar nicht aus erster Hand kannten. Ihre Hitleranalyse überzeugt dagegen.

 

Die Rezensentin Bettina Engels beklagt in der FAZ Ihre Blindheit gegenüber der Entwicklung der Psychoana­lyse, die die Entwicklung des Kleinkindes mittlerweile nicht mehr als Trieb­schick­­­­sal, sondern als Beziehungs­­­geschehen rekonstruiere. Dazu kann ich keinen Kommentar abgeben, da ich mich nicht mit der gängigen Praxis der Psycho­analyse auskenne. Des Weiteren führt Engels aus, die von Ihnen angeprangerte Verleugnung der körperlichen wie seelischen Misshandlung von Kindern nehme in Revolte des Körpers geradezu paranoide Formen an. Sie, Frau Miller, schössen in den von ihnen selbst breitgetretenen Pfaden meilenweit über das Ziel hinaus, was ihrem berechtigten Anliegen keinen guten Dienst erweise. Die Misshandlung sei allgegenwärtig, und vom Holocaust bis zum 11. September, von der Magersucht bis zum Gehirntumor gehe alles Leid der Welt auf ihr Konto. Sie werden von Bettina Engels mit den Worten zitiert: „Ich kenne keinen Menschen, der an psychischen Symptomen leidet und sich behandeln lassen will, ohne dass er in der Kindheit geschlagen wurde.“

 

Genau an diesem Punkt muss ich Ihnen zur Seite springen. Ich beschäftige mich seit längerem ziemlich intensiv mit der Hirn- und Primatenforschung. Antonio Damasio kommt zu dem Schluss, jede Art von Gefühl und Emotion habe ihren Ursprung in der Homöostase. Das würde Ihre These, dass jedes seelische Leid sich durch physische Symptome offenbare, voll und ganz bestätigen. Der Körper versucht sozusagen das aufgrund der elterlichen Gräueltaten hervorgerufene Ungleichgewicht, wieder in ein Gleichgewicht zu zwingen, indem er patho­logische Symptome generiert. Jeder Mensch könnte das im Grunde ganz leicht an sich selbst überprüfen, wenn er sich erschrickt. Dieser harmlose Vorgang ist natürlich mit schweren Misshand­lungen nicht zu vergleichen. Dennoch kann man an diesem psychosomatischen Phänomen erkennen, wie Körper und Gefühl eine Einheit bilden. Leider besitzt Antonio Damasio auch fragwürdige Seiten, denn er hat die Tendenz, manipulativ in die Strukturen des Gehirns einzugreifen, um die Folgen von Läsionen zu lindern. Ich werde mich in Kürze mit der Biologin Katharina Braun kurzschließen, denn ich brenne auf die Beantwortung der Fragen, inwieweit durch desaströse frühkindliche Erfahrungen Hirnläsionen im Stirnbereich reversibel sind und durch geeignete Therapien rückgängig gemacht werden können. Oder könnte es sogar möglich sein, dass diese Schädigungen ab einem bestimm­ten Übermaß von Misshand­lung sogar irreversibel sind? Katharina Braun macht sehr interessante For­schungen an Strauchratten mit der Fragestellung, inwieweit sich sozialisa­torische Defizite schädigend auf das Gehirn auswirken.

 

Erstaunlich finde ich es, dass Sie in Ihren Büchern noch nie die Bonobos erwähnt haben. Erstaunlich deshalb, weil diese Spezies die herkömmlichen Meinungen über Kultur auf den Kopf zu stellen scheinen.

 

Darf ich Sie fragen, ob Alice Miller ihr wirklicher Name oder nur ein Künstlername ist? Wie kommt es, wenn sie doch in Polen geboren wurden, einen englischen Namen haben?

Ich würde mich freuen, wenn Sie zu meinem Brief Stellung nehmen würden, damit sich für mich vieles klären könnte.

Herzliche Grüße

 

Michael Dressel

 

 

Zusatz, 14.8.2005

 

Heute haben Sie mich in Erstaunen versetzt, als ich folgende Reaktion auf einen Leserbrief las:

 

Ankündigungen von ungebetenen Besuchen mit illusionären Erwartungen empfinde ich als respektlose Übergriffe und reagiere überhaupt nicht auf solche Briefe. Doch ihre "Androhung", sich vor meine Türe zu setzen, verstehe ich eher als einen harmlosen Witz, als einen Ausdruck Ihres Gefühls, das ich verstehen kann.

 

Bei dieser Reaktion scheint Ihr Einfühlungsvermögen, Sie völlig verlassen zu haben. Sie sehen nur Ihre Person bedroht und gehen gar nicht darauf ein, warum sich viele Leser eine Begegnung mit Ihnen wünschen. Für mich ist dieser Wunsch nachvollziehbar, weil ich ihn vor mehr als 15 Jahren auch hegte. Merken Sie nicht, dass Sie die Funktion der guten Mutter einnehmen, die sich jeder so sehr gewünscht hätte. Dass Sie selbstverständlich keine solche ersehnte Mutter sind, müsste Ihren Leser ebenso klar sein wie Ihnen selbst. Sicherlich wollen diese zuallerletzt, respektlose Übergriffe mit illusionären Erwartungen gegen Sie starten. Das alles hat mit einem harmlosen Witz nichts zu tun. Und welches Gefühl der Leserbriefautorin meinen Sie, das sie angeblich so gut verstehen könnten? Diese Sätze lesen sich wie Artefakte, wenn man den Zusammen­hang würdigt, in dem sie fallen. Vielleicht offenbart sich hier Ihre Paranoia, die Ihnen von vielen Rezensenten attestiert wird. Könnte das an Ihrem fortge­schrit­tenen Alter liegen? Vermutlich wird der wahre Grund vielmehr darin liegen, dass Sie sich unbewusst an Ihre eigene über­fordernde Mutter erinnert fühlen und sich nun bei einer fremden Person endlich abgrenzen können, da hier keine Gefahr lauert. Dieser Umstand macht Sie zu einem normalen Menschen und lässt klar erkennen, dass auch Sie noch viel Arbeit zu leisten haben, damit Sie nicht dem Wieder­ho­lungs­zwang unterliegen und wild drauflos projizieren. Sie kämpfen offensicht­lich mit den gleichen Nöten, wie Sie sie in Ihren Büchern beschrei­ben. Das sollte jedem Ihrer Leser bewusst sein und nicht nur Ihren Lesern, denn auch die vielen Rezensenten haben Sie unbewusst auf einen Sockel gehievt, auf dem Sie unweigerlich zu einem Übermenschen mutieren müssen. Genau davor haben Sie immer gewarnt. Sie wollen eben nicht die Funktion eines Gurus einneh­men. Andererseits kann die Bewunderung so vieler Menschen die Eitelkeit und das irreale Selbstbild dermaßen fördern, dass man den Boden unter den Füßen verliert und selbst daran glaubt, dieser Über­mensch zu sein. Diesen Prozess haben wir Menschen dem somatosenso­rischen Bereich unseres Gehirns zu verdanken. In ihm lassen sich Repräsenta­tionen erschaffen, die dann für uns das Abbild der Realität sind. Aber das ist meist nur von kurzer Dauer, wie die Wirkungen von autogenem Training, Yoga, Autosuggestion usw. zeigen. Irgend­wann setzen sich die auf der Realität basierenden Repräsen­tationen wieder durch. Es sei denn, es kommt immer wieder aufs Neue ein großer Nachschub von immenser Bewunderung. Unterliegen Sie derzeit der Gefahr, den Boden unter den Füßen zu verlieren? Ihr letztes Buch hat mir jedoch bewiesen, dass Sie den Blick auf die Realität nach wie vor unbestechlich fokussieren. Ich kenne kaum einen Menschen, der so klar die Ursachen für das menschliche Grauen anprangert und verurteilt.

 

© Michael Dressel 8/2005