Das ewige Missverständnis – aber warum?

Alice Miller wurde vorgeworfen, sie würde in einer Art Verfolgungswahn zu Unrecht alle Eltern dieser Welt verteufeln. Mit ähnlichen Vorwürfen werde ich auch des Öfteren konfrontiert. Doch wie kann es zu solchen Vorwürfen kommen?

 

Wer jemals aufmerksam die Schriften von Alice Miller und mir gelesen hat, dem müsste sofort auffallen, dass diese Vorwürfe unhaltbar sind. Ich bin ein unumstößlicher Optimist, wenn es darum geht, dass nicht alle Eltern die Dämonen ihrer Kinder sind. Sie sind es ja nur dann, wenn sie ihre Kinder demütigen, schlagen, sexuell ausbeuten, betrügen, verspotten, vernachlässigen. Allerdings herrscht in der Wahrnehmung solcher Praktiken eine Unredlichkeit vor. Weil die Eltern diese Praktiken unbewusst zwanghaft ihren Kindern antun, sind sie sich keiner Schuld bewusst. Seltsamerweise nehmen ihre Kinder gar keinen Anstoß daran. Der Grund dafür ist, dass sie die Praktiken ihrer Eltern als das Normalste der Welt betrachten, weil sie noch nichts anderes kennen. Das wiederum bekräftigt die Eltern natürlich darin, alles richtig zu machen.

 

Es besteht allgemein die Tendenz, stets die Perspektive der Eltern einzunehmen, wenn es um die Belange des Kindes geht. Wer jedoch aufmerksam das Dilemma betrachtet und die Perspektive des Kindes einnimmt, erkennt sofort das auffällige Machtgefälle zwischen Eltern und Kind. Die Eltern können ihre Interessen gegenüber ihrem Kind völlig unproblematisch durchsetzen, da jedes Kind von Natur aus seine Eltern liebt, ihnen alles glaubt, ihnen alles verzeiht, ihnen alles von den Augen abliest. Das gelebte Machtgefälle nennen die Eltern dann heuchlerisch Erziehung, Fürsorge oder sogar Liebe. Doch ist es Fürsorge, wenn sie ihr Kind herzzerreißend schreien lassen und sich von ihm genervt abwenden? Ist es Liebe, wenn sie ihr Kind drohend anschreien, nur weil es nicht sofort das tut, was sie wollen? Das Kind lernt vom Verhalten seiner Eltern, dass der große Starke sich immer machtvoll und rücksichtslos durchsetzt, dass dessen Perspektive per se die maßgebliche ist. Sobald das Kind selbst Vater oder Mutter ist, wendet es das Erlernte gegen das eigene Kind oder gegen Sündenböcke an. Es übernimmt wie selbstverständlich das Verhallten seiner Eltern. Wie sich das eigene Kind fühlt, spielt keine Rolle. Damit zementiert sich die Perspektive der Eltern als die einzig maßgebliche. Nicht zuletzt deswegen wird derjenige, der die Perspektive des Kindes einnimmt, zumeist verhöhnt. 

 

Doch warum besteht ein derart großer Einfühlungsmangel gegenüber der Befindlichkeit des eigenen Kindes? Als wir selbst noch ganz kleine, abhängige Kinder waren, erzeugten die missachtenden Erziehungsmaßnahmen unserer Eltern in uns Gefühle des Schmerzes, der Wut, der Angst usw. Jedoch wurden unsere Gefühle von ihnen komplett ignoriert, als ob wir sie nie gehabt hätten und als ob es die missachtenden Erziehungsmaßnahmen nie gegeben hätte. Die Ignoranz unserer Eltern nötigte uns, die für das Leben unbedingt notwendigen authentischen Gefühle abzuspalten. Denn die Gefühle des Schmerzes und der Wut, die wir nur durch Schreien ausdrücken konnten, wurden von ihnen gar nicht wohlwollend aufgenommen. Mit der Abspaltung unserer authentischen Gefühle konnten wir als wehrlose, abhängige Kinder in unserer ausweglosen Not ein Überleben mit unseren geliebten, aber in Wirklichkeit grausamen Eltern ermöglichen. Fatalerweise entsteht daraus später der Einfühlungsmangel für die Not anderer und für die eigene. Als Erwachsene fehlt uns vor allem die Fähigkeit, verantwortungsbewusst und einfühlsam mit den eigenen Kindern zu leben.

 

Wie würde das Leben komplett anders verlaufen, wenn wir als Kind von unseren Eltern wirklich geliebt worden wären? Unsere herzzerreißenden Schreie hätten sie dann aufs Äußerste alarmiert. Sie hätten uns getröstet und liebevoll in die Arme genommen. Sie hätten uns die Aufmerksamkeit gegeben, die wir so dringend brauchten, um zu wissen, dass wir nicht einsam und verlassen mit unserem Schmerz dastehen und dazu verdammt sind, mit diesem alleine fertig werden zu müssen. Sie hätten uns nicht drohend angeschrieen, sondern beruhigt. Wir hätten uns deshalb bei ihnen gut aufgehoben gefühlt. Unsere Gefühle hätten wir dann nicht abspalten müssen, weil unsere Eltern sie aufmerksam wahrgenommen und sich uns fürsorglich zugewendet hätten. Wir hätten uns dann zu fühlenden, verantwortungsbewussten, fröhlichen Menschen entwickelt, die lustvoll leben würden. Das Leben würde uns dann nicht wie ein unbarmherziger Überlebenskampf erscheinen. Denn für die wirkliche Freude und den wirklichen Spaß im Leben bringen wir von Natur aus alles mit: Wir lieben unsere Eltern mit dem ersten Atemzug, umgekehrt ermöglicht uns die Liebe unserer Eltern später viele glückliche zwischenmenschliche Beziehungen. Wir werden Dinge entwickeln, die uns alle weiterbringen und uns immense Lebensfreude verschaffen. Wir lassen niemanden allein im Elend stehen, denn dessen Glück ist unser Glück. Wir wissen einfach, was uns allen gut tut.

 

Zwischen dem, der Liebe erfahren hat und dem, der keine Liebe erfahren hat, müssen zwangsläufig Missverständnisse entstehen. Denn der eine kann sich in seine Mitmenschen einfühlen und der andere dagegen nicht. Der andere ist hauptsächlich auf sich selbst bezogen, weil er überall Bedrohungen fürchtet, vor denen er sich ständig in Acht nehmen muss. Für ihn erscheint das Leben wie ein nie endender unbarmherziger Überlebenskampf. Wie leicht und unbeschwert ist dagegen das Leben für denjenigen, der als Kind wirklich Liebe erfahren hat. Dieser Mensch kennt keine Hürden, neugierig und interessiert auf andere Menschen zuzugehen, ihnen aufmerksam und staunend zuzuhören, sich auf sie einzulassen, mit ihnen gemeinsam das Zusammensein zu genießen. Der Mensch, der von seinen Eltern Liebe erfährt, lernt die Welt zu bejahen. Und der Mensch, der von seinen Eltern das Absurde erfährt, nämlich dass Hass Liebe wäre, lernt die Welt zu verdrehen und zu hassen. Es kommt also darauf an, wie wir mit unseren Kindern umgehen. Unsere Einstellung zum Kind stellt die Weichen für unser aller Leben. Hiermit beginnt alles und endet alles!

 

Somit ist es nicht der Wahn von Alice Miller und mir, sondern der von den Menschen, die ihn ihr und mir zuschieben wollen. Denn diese unterliegen dem Wahn, dass ihre lieblosen Eltern sie lieben würden. Sie beweisen mit der Auswahl ihres Feindbildes, wie ihre Eltern tatsächlich mit ihnen umgehen. Ausgerechnet die Menschen, die sich auf die Seite der geschundenden Kinder stellen, werden von ihnen als Feindbild auserkoren. Damit besiegeln sie die Missachtung des Kindes und die ihrer eigenen Person.

 

© Michael Dressel 8/2010