Emotionen und Gefühle

Was sind Emotionen und Gefühle?

 

Zuerst möchte ich auf das Wort Emotionen eingehen. Emotionen werden allgemein als das Fremdwort für Gefühle verstanden. So verstand ich es früher auch, bis ich mich intensiv mit der Hirnforschung beschäftigte und dabei lernte, dass Gefühle und Emotionen zwei unterschiedliche Dinge sind. Das Wort Instinkt kommt dem Begriff Emotion sehr nahe und wird sicherlich von jedermann verstanden. 


Eigentlich ist es ganz einfach, Emotionen und Gefühle voneinander zu unterscheiden. Emotionen hat jedes Lebewesen. Ohne sie wäre es nicht lebensfähig. Sie machen ein Lebewesen zu dem, was es ist: Zu einer Amöbe, einer Schildkröte, einem Löwen, einem Adler, einem Affen oder einem Menschen. Emotionen entsprechen dem genuinen Sosein eines Lebewesens. Sie erzeugen angeborene Wertungen auf Lebenserfahrungen, die ein bestimmtes folgerichtiges Verhalten hervorrufen.

 

Gefühle haben dagegen nur Lebewesen mit Großhirn. Eine Amöbe beispielsweise hat kein Großhirn und kann deswegen keine Gefühle entwickeln. Bei Lebewesen mit Großhirn entstehen im Frontallappen des Gehirns Gefühle. Sie entwickeln gemeinsam mit Lebenserfahrungen  Erinnerungen. Je ausgeprägter das Großhirn ist, desto differenziertere Gefühle und Erinnerungen können entstehen. Die unverwechselbare Eigenart eines Lebewesens entspringt aus dessen Gefühlen, die mit Erinnerungen, also mit individuellen Lebenserfahrungen, verknüpft sind. Für die genuine Orientierung sind sowohl Emotionen und als auch Gefühle im Zusammenspiel zuständig. Durch sie können Lebenserfahrungen als gut oder schlecht gewertet werden.

 

Bei uns Menschen sind Gefühle der nach außen ausgedrückte innere psychische Zustand. Gefühle müssen sich frei ausdrücken können, damit der andere Bescheid weiß, in welchem psychischen Zustand sich sein Gegenüber befindet. Die Gefühle eines anderen wahrzunehmen und darauf lebenszugewandt zu reagieren, macht Empathie aus.

 

Erinnerungen ermöglichen es, dass sich Lebewesen auf die unterschiedlichsten Lebenssituationen vorausschauend einzustellen vermögen. Wir Menschen können uns aufgrund unseres enormen Großhirns, spielend leicht auf die unterschiedlichsten Lebenssituationen vorausschauend einstellen. Darum sind wir im hohen Maße lern- und anpassungsfähig. Zudem ermöglichen uns die mit Gefühlen verknüpften Erinnerungen eine vernunftgesteuerte Orientierung. Man nennt dies auch Intelligenz.

 

Da das Gefühl darüber urteilt, ob Lebenserfahrungen und Emotionen im Einklang zueinander stehen, kann begreiflicherweise nur bei einem positiven Urteil das unbeschwerte Leben geführt werden. Kommt das Gefühl dagegen zu einem negativen Urteil, weicht der Mensch den negativ bewerteten Lebenserfahrungen intuitiv aus, um nicht dem beschwerten Leben zum Opfer zu fallen. Ein unbefangenes Gefühlsurteil kann jedoch nur dann entstehen, wenn der Mensch so sein darf, wie es ihm von Natur aus angeboren ist. Wir Menschen wenden uns nämlich von Natur aus dem zu, was uns gut tut, was uns Freude und Spaß bereitet. Auf diese Weise können wir unsere wertvollen Anlagen optimal weiterentwickeln, wovon vor allem unsere zwischenmenschlichen Beziehungen profitieren. Gemeinsamer Spaß und gemeinsame Freude machen dann den maßgeblichen Lebenssinn aus. Wenn wir jedoch den negativ bewerteten Erfahrungen nicht ausweichen können, dann beschweren diese zwangsläufig unser Leben. Anstelle von Spaß und Freude rücken Kampf und Krampf in den Vordergrund. Unser ursprünglich unbefangenes Gefühl wird dadurch nachhaltig pervertiert, worunter unsere kognitiven sowie emotionalen Kompetenzen erheblich leiden. Vor allem aber leiden darunter unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. 

 

Eine Taube beispielsweise kann sich nur sehr begrenzt auf Lebenserfahrungen vorausschauend einstellen. Dafür ist Ihr Großhirn zu gering ausgeprägt. Sie reagiert deshalb fast ausschließlich emotional auf Lebenserfahrungen. Aufgrund ihres sehr geringen Erinnerungsvermögens kann in ihr kein dauerhaftes Gefühl der Angst entstehen. Darum sind hauptsächlich Ihre Emotionen für ein unbeschwertes Leben zuständig. Wenn eine Straßenbahn sie zu überfahren droht, dann fliegt sie einfach davon. Kurze Zeit später sitzt sie wieder an demselben Ort, wo sie beinahe überfahren worden wäre und kann sich dort wieder völlig angstfrei und unbeschwert auf Futtersuche begeben.

 

Wenn Emotionen und Gefühle nicht im Einklang zueinander stehen

 

Leider ist das von mir oben Beschriebene nur der idealtypische Zustand des Menschen und nicht der tatsächliche. Die meisten Menschen erleben schon am Anfang ihres Lebens das Grauen auf Erden, das ihrem genuinen Wesen total zuwiderläuft und ihr Leben extrem beschwert. Daher muss der Verlauf einer beschwerten Lebensgeschichte immer aus der Sicht des Kindes gesehen werden, weil als Kind alles beginnt. Viele Kinder wachsen tragischerweise bei Eltern auf, bei denen sie sich wegen deren gewalttätigen oder vernachlässigenden Verhaltens zu völlig selbstentfremdeten Menschen entwickeln. Auf diese Weise werden ihre kognitiven und emotionalen Fähigkeiten empfindlich geschädigt und ihre ursprünglich unbefangenen Gefühle pervertiert. Sie können deswegen das erfahrene Grauen irgendwann gar nicht mehr realistisch wahrnehmen. Eigentlich müssten ihre Emotionen sie über das erfahrene Grauen alarmieren, doch aufgrund der sie überlagernden und widersprechenden pervertierten Gefühle geschieht dies fatalerweise nicht. Zudem reden die Eltern ständig ihrem Kind ein, sie täten nur das Beste, obwohl sie in Wirklichkeit genau das Gegenteil tun. Darum werden die ursprünglich unbefangenen Gefühle des Kindes mit den falschen Botschaften der Eltern überlagert, weshalb sie zwangsläufig nach und nach durch dissoziative Erinnerungen, die der Wahrheit total widersprechen, pervertieren. Sie blieben dann unbefangen bzw. authentisch, wenn Gefühle und Emotionen im Einklang zueinander stünden, wenn Erinnerungen und Gefühle wahrheitsgemäß miteinander verknüpft wären. Groteskerweise ignorieren die Eltern die authentischen Gefühle ihres Kindes und wenden sich stattdessen mit voller Aufmerksamkeit seinen pervertierten zu, weil sie meinen, alles richtig zu machen. Auf diese Weise zementiert sich die Selbstentfremdung. Da die meisten Menschen als Kind solche Erfahrungen durchmachen müssen, leben wir insgesamt in einer beschwerten Gesellschaft {Mangelmutantengesellschaft}. 


Insofern kann unsere enorme Lern- und Anpassungsfähigkeit auch dazu führen, dass wir aufgrund der oben geschilderten Lebensumstände die verheerende Selbstentfremdung unhinterfragt verinnerlichen. Wir Menschen sind nämlich dann im höchsten Maße verletzlich, wenn unsere Emotionen, die nur ihrem naturgegebenen Auftrag folgen, schon sehr früh von unseren primären Bezugspersonen ignoriert werden. Als Babys können wir noch keine Vorstellung davon haben, dass unsere Eltern nicht so handeln, wie es uns Menschen von Natur angelegt ist. Wer sein Kind gewollt oder ungewollt auf eine Weise behandelt, die seinen naturgegebenen Erwartungen  zuwiderlaufen, vergewaltigt es. Fühlende Eltern erkennen sofort die Not ihres Kindes durch dessen Quengeln oder Schreiens und werden umgehend alles tun, damit es ihm wieder gut geht. Doch wie weit die Gefühllsperversion in unserer Gesellschaft verbreitet ist, kann ständig in aller Öffentlichkeit wahrgenommen werden, wenn Kinder herzzerreißend schreien und niemandem das zu interessieren scheint. Als ob das Schreien der Kinder das Selbstverständlichste wäre. In einer Mangelmutantengesellschaft ist es tatsächlich das Selbstverständlichste. Da die meisten Menschen von der verheerenden Selbstentfremdung betroffen sind, kommt es regelmäßig dazu, dass die in der frühen Kindheit durchgemachten Scheußlichkeiten ausgerechnet beim eigenen geliebten Kind wie selbstverständlich wiederholt werden.


Wenn Eltern ihrem Kind auch noch den Ausdruck der authentischen Gefühle durch sein Quengeln und Schreien verbieten, die sie durch ihr scheußliches Verhalten und ihre falschen Botschaften verursacht haben, dann spalten sich diese sowohl von den Emotionen als auch von den Verursachern, den Eltern, ab. Es ist, als ob es die scheußlichen Erfahrungen und die bösen Eltern nie gegeben hätte. Trotzdem bleiben die authentischen Gefühle der Wut unerkannt im Körper des Kindes stecken, ohne sich beim richtigen Adressaten ausdrücken zu können. Dennoch drängen die Gefühle auch im abgespaltenen Zustand so lange nach Ausdruck, bis sie einen verständigen Adressaten finden. Da jedoch die Eltern als die Verursacher allen Übels nicht erkannt werden dürfen, entstehen Übersprungshandlungen der unterschiedlichsten Art.

 

Das allgegenwärtige Machtgefälle zwischen Eltern und Kind spiegelt sich darin wider, dass stets eine schwächere Person als Sündenbock für die Übersprungshandlungen ausgesucht wird. Dabei repräsentieren die Eltern die Starken und das Kind den Schwachen. Es hängt von den jeweiligen primären zwischenmenschlichen Erfahrungen ab, auf welche Weise sich die abgespaltenen Gefühle gegen Schwächere ausdrücken. 

 

Sobald Sündenböcke beim gefühlspervertierten Menschen Gefühle wachrufen, kommen gleichzeitig alte und aktuelle an die Oberfläche und vermischen sich miteinander. Dabei sind die alten sehr viel dominanter als die aktuellen, denn sie entstanden während der maßgeblichen hirnphysiologischen Entwicklung in den ersten drei Lebensjahren und machen deshalb die gefühlsmäßige Grundstimmung aus. Dabei sind die alten Gefühle untrennbar mit den frühen zwischenmenschlichen Erfahrungen verknüpft. Der gefühlspervertierte Mensch konfrontiert daher den gefundenen Sündenbock mit den gleichen grausamen zwischenmenschlichen Erfahrungen, wie er sie einst als abhängiges Kind durch seine Eltern erfuhr. Er kann seine aktuellen Gefühle nur auf diese Weise ausdrücken.

 

Aufgrund der unbewussten Vermischung von alten und aktuellen Gefühlen entstehen Erinnerungen, die zu kognitiven Dissoziationen führen. Denn die alten Gefühle, die mit den frühen grausamen zwischenmenschlichen Erfahrungen überlagert sind samt den dazugehörigen primären Bezugspersonen, vermischen sich mit aktuellen Gefühlen samt den hiermit dazugehörigen Personen. Darum kommt es regelmäßig zu einer Verwechslung zwischen den Bezugspersonen und den mit ihnen assoziierten Gefühlen, weshalb die gefühlsmäßige Orientierung nicht dissoziationsfrei funktioniert. Sie könnte nur dann dissoziationsfrei funktionieren, wenn die frühen desaströsen Erfahrungen und die dafür verantwortlichen primären Bezugspersonen sowie die aktuellen Erfahrungen und die hierfür verantwortlichen Personen realistisch wahrgenommen würden. Dann könnten alte und aktuelle Erinnerungen explizit voneinander unterschieden werden. 

 

Zudem werden die in der Kindheit qualvoll erlittenen Grausamkeiten unterbewusst auf den Stand des erwachsenen Menschen gebracht. Darum können die unglaublichsten destruktiven Handlungen entstehen. Sie sind alles andere als unerklärbar, wie es üblicherweise behauptet wird, sondern die logische Folge dessen, was Kindern an Grausamkeiten durch die Eltern zugefügt wird. Allerdings können das nur die Menschen unvoreingenommen wahrnehmen, die die Sicht des Kindes einnehmen und nicht die der Eltern.

 

Da jedes Kind von Natur aus seine Eltern liebt, egal wie diese mit ihm umgehen, kommen als Sündenböcke nur solche Menschen in Betracht, die auf ähnliche Weise das besondere Eltern-Kind-Verhältnis verkörpern. Menschen dagegen, die einem völlig gleichgültig sind, werden erst gar nicht als Sündenböcke ausgewählt.

 

Da die Sündenböcke ihrerseits auch in der oben beschriebenen destruktiven Falle stecken, macht sie das zu willfährigen Opfern. Dagegen sind Menschen, die nicht in dieser destruktiven Falle stecken, davor gefeit, sich zu willfährigen Opfern machen zu lassen und gehen gefühlspervertierten Menschen intuitiv aus dem Weg. Sie müssen dann nicht stellvertretend das fühlen, was die gefühlspervertierten Menschen einst als gedemütigtes Kind an Gefühlen abspalten mussten.

 

© Michael Dressel 11/2014