Oxytocin – das Liebeshormon, Weltbekannter Geburtshelfer in Köln

Michel Odent, Schüler des Pioniers der sanften Geburt Frédérick Leboyer, referierte im April 1997 zum Thema Geburt und Stillen aus hormoneller Sicht auf dem Kongress der AFS (Arbeitsgemeinschaft Freier Stillgruppen) Bundesverband e.V. in Köln vor ca. 70 Personen, zusammengesetzt aus Hebammen, Ärzten, Müttern, Stillberaterinnen, Krankenschwestern u. a.

 

Der französische Arzt und Geburtshelfer lebt jetzt in London und ist bekannt durch viele Bücher zur natürlichen Geburt und seine Forschungen zur primären Gesundheit (Primal Health Research). In seiner Privatklinik im französischen Pithiviers machte er jahrelang Studien zum natürlichen Geburtsverhalten des Menschen und trägt jetzt in seiner in London gegründeten Forschungsgemeinschaft (Primal Health Research Centre) Erkenntnisse aus Studien in aller Welt über den Zusammenhang zwischen dem Beginn des Lebens und späterer Gesundheit zusammen.

 

Odent möchte Menschen versammeln, die in der Lage sind, in globalen Zusammenhängen zu denken. Nur so könne man seine Erkenntnisse verstehen.

 

Ausgehend vom unmittelbaren Zusammenhang zwischen Nerven-, Hormon- und Immunsystem des Menschen (Subkortikales Nervensystem, Endokrines System und Immunsystem) stellt er die wechselseitige Beeinflussung der Gesundheit des Menschen in neuem Licht dar1.

 

Nach den neuen Erkenntnissen ist Gesundheit so gut wie das primäre adaptive System (ein besserer, weil einfacherer Ausdruck für die medizinischen Begriffe wie »psychoneuro-endokrinologisches System« oder »Psychoneuroimmunologie« bzw. »Immunendokrinologie«) arbeitet. Damit prägte er einen neuen Gesundheitsbegriff – Gesundheit ist demnach nicht die »Abwesenheit von Krankheit«!

 

Die primäre Periode umfasst die Zeit im Mutterleib, während und nach der Geburt sowie die frühe Kindheit. Während der primären Periode erlangen die adaptiven Systeme ihre so genannte gesundheitliche Reife. Dies ist die Zeit der starken Abhängigkeit von der Mutter.

 

Es ist leicht nachzuvollziehen, dass jegliches Ereignis, das in dieser Zeit stattfindet, irreversible Wirkungen zur Folge haben kann. Am Ende der primären Periode befänden wir uns in einem Grundzustand von Gesundheit, genannt primäre Gesundheit2.

 

Schauen wir uns dies einmal am Beispiel der Geburt und an der Interaktion zwischen Mutter und Neugeborenem sowie dem Stillen näher an.

 

Auf dem Kongress in Köln zeigte Mr. Odent  außergewöhnlich eindrucksvolle Aufnahmen von einer Gebärenden in den verschiedenen Stadien des Geburtsvorgangs. Die erste Phase, die Eröffnung, dauert abhängig von der hormonellen Lage relativ lange. In einer gemütlichen, lösend wirkenden und angstfreien Umgebung, begleitet von einer Sicherheit gebenden vertrauten Person ist jedoch ein niedriges Niveau von Adrenalin (Stresshormon) im Blut, so dass die Gebärende entspannt ist wie ihre Muskeln und die Geburt beginnen kann.

 

In der zweiten Phase wirken die inzwischen zunehmend gebildeten Hormone Endorphin und Prolaktin, die im Hypothalamus (Hirnanhangdrüse), dem tieferen Teil unseres Gehirns (Primärgehirn), produziert werden. Es ist das so genannte instinktive Gehirn, dessen Arbeit durch das Großhirn (Neocortex) gestört werden kann, was bedeutet, dass die Schwangere am besten nicht angesprochen werden sollte. Sie wird von sich aus eine Stellung bevorzugen, z. B. vorn aufgestützt nach unten gebeugt, so dass sie wenig von ihrer Umgebung wahrnimmt. Ihre Sinnesorgane Augen und Ohren, die Eingangspforten für das Großhirn, sind dabei quasi verschlossen. (So haben z. B. bewusste Frauen, die ihre Geburt durch Lesen vorausplanen, gerade in dieser Hinsicht Schwierigkeiten, da sie ihr Denken nun abschalten müssten!) Nimmt die Gebärende wenig wahr, ist ihre Gehirnaktivität  vorteilhafterweise herabgesetzt, sie hat sich von der Welt abgegrenzt und ist »auf einem anderen Planeten«.

 

In der letzten Phase, der Austreibung, sollte sie ebenfalls nicht gestört werden, ihr Adrenalinspiegel ist jetzt sehr hoch, sie bevorzugt die aufrechte Stellung, hält sich krampfhaft an etwas Hängendem fest, z. B. einem Seil oder einer Schlinge, und bringt so in der aufrechten Position ihr Baby zur Welt.

 

Nun wird die Mutter selbst – immer noch unter dem Einfluss des aktivierenden Adrenalins – ihr Baby nehmen. Auch das Neugeborene hat noch ebensolch große Mengen Noradrenalin im Blut (mehr als ein Erwachsener bei einem Herzanfall!) und ist hellwach, seine Arme und Beine zeigen eine hohe Muskelspannung, es ist in der Lage sich festzukrallen. Ist es nicht zu hell, sind seine Augen weit geöffnet, die Pupillen sind, bedingt durch die Hormonlage, ebenfalls weit offen.

 

In diese faszinierenden schwarzen Augen schaut die Mutter! Als Michel Odent dieses Bild im Kongresssaal in voller Größe an die Bildwand projizierte, herrschte größte Ergriffenheit unter den Zuschauern. Vielen Müttern standen Tränen in den Augen, denn sie fühlten in diesem Augenblick, wie die Liebe zum Kind ungestört entstehen kann, ja könnte! Hätte man sie nicht gestört, hätte man das Licht verdunkelt, hätte nicht jemand anders das Baby sofort an sich genommen, hätte man sie nicht entmündigt und in das intimste Geschehen zwischen Mutter und Kind eingegriffen!

 

Was sie hier sahen und mitfühlten, lässt sich natürlich ebenfalls biologisch erklären. Wiederum gibt es eine Interaktion zwischen Verhalten und Hormonen. Die hohen Hormonmengen an Adrenalin sind anfangs wichtig, da die Mutter hellwach ist und viel Kraft hat, um ihr Kind zu schützen. Nehmen Sie einmal einer Affenmutter ihr gerade geborenes Junges weg! Das ist nahezu unmöglich, denn sie reagiert darauf voller Aggressivität. Doch muss das Adrenalin nach der Geburt wieder abgebaut werden, und das geschieht am besten durch das intensive Anschauen des geborenen Kindes. Die Mutter verliebt sich in ihr Kind, vor allem auch wegen der wunderschönen Augen des Babys, in die sie schaut. Dadurch wird das Liebeshormon Oxytocin freigesetzt, das z. B. auch bei der geschlechtlichen Liebe im menschlichen Blut in hoher Konzentration vorhanden ist. Es ist aber wichtig, mit welchen weiteren Hormonen zusammen das Oxytocin im menschlichen Blut kursiert. Tritt es zusammen mit Prolaktin auf, dann richtet sich die Liebe auf das Kind, ohne Anwesenheit des Prolaktins jedoch auf den Sexualpartner. Beides wird nur in einer ungestörten Umgebung möglich, in der die Mutter bzw. die Liebenden sich völlig frei und sicher fühlen, und es muss laut Michel Odent auch warm dabei sein3.

 

Genau in dieser Ungestörtheit nach der Geburt ist die Ablösung der Plazenta möglich: Jetzt sinkt der Adrenalinspiegel und die Mutter legt sich instinktiv, weil entspannt, hin und überlässt dem Kind die Brust, nach der es sucht und wegen seines Hormon­gehalts aktiv daran saugen kann. Das Kolostrum wird fließen, denn  Adrenalin behindert nicht mehr das milchprodu­zierende Hormon Prolaktin und das milchspendende und wehenför­dernde Oxytocin. Im Gegenteil, das Hormon Prolaktin ist bereits wegen den die Schmerzanpassungsreaktionen heraus-fordernden Geburtsschmerzen in höherer Konzentration im Blut. Die Schmerzen regen die Produktion körpereigener Beta-Endorphine an (das sind körpereigene Schmerzmittel), die wiederum Voraussetzung für die Prolaktin-Produktion sind. Vor allem stimulieren sie die Prolaktin-Rezeptoren in der Brust. Hat eine Frau bereits ein Kind geboren und gestillt, sind diese schon genügend stimuliert und der Effekt der Endorphine nicht ganz so bedeutungsvoll. Endorphine haben aber weitergehende Wirkungen, wie wir noch sehen werden.

 

Der Adrenalinspiegel ist ganz gesunken, nachdem die Plazenta ausgestoßen wurde. Die Nabelschnur bleibt mindestens so lange als Verbindung bestehen, bis sie vollständig ausgeblutet ist und sich dadurch im Kind genügend Eisenreserven für das erste halbe Jahr angesammelt haben4.

 

Auch das Baby wird sich allmählich müdesaugen und seinen Noradrenalinspiegel dabei immer mehr abbauen. Es hat beide Liebeshormone mit der Muttermilch eingesogen und mit dem Anblick, dem Geruch und dem vertrauten Herzschlag seiner Mutter verbunden. Die nach der großen Anstrengung der Geburt bei Mutter und Kind vorhandenen Endorphine lösen Wohlbefinden und damit Abhängigkeiten und Gewohnheiten aus (es sind

morphinähnliche Stoffe)1; also die Abhängigkeit, die das

Baby für sein Weiterleben am allermeisten braucht: die Abhängigkeit von der Mutter.

 

Da Endorphine schon während der Wehen vorhanden sind und dadurch den Prolaktininhibitor blockieren, wodurch sich Prolaktin im Blut der Mutter anreichert, reifen bereits die Lungen des ungeborenen Kindes und werden auf seinen Eintritt in die Atmosphäre vorbereitet. So erklärt man sich auch die Atemschwierigkeiten bei Kaiserschnittentbindungen ohne ausreichende Wehentätigkeit. Ungefähr zwei Stunden nach der Geburt arbeitet bei der vorher ungestört instinktiv handelnden Frau das Großhirn wieder, ihr Verstand bestimmt nunmehr vorrangig ihre Handlungen. Unter diesen günstigen natürlichen Verhaltensweisen ist das Allerwichtigste bereits geschehen: Zwischen Mutter und Kind ist eine vollständige Bindung zustande gekommen. Die Liebe hat gesiegt.

 

Der Zusammenhang der oben erwähnten drei adaptiven Systeme wird hier anschaulich; bestimmten vorerst Hormonsystem und Sinnesorgane den Lebensanfang des neuen Erdenbürgers, beginnt sich nun auch das dritte im Bunde, das Immunsystem einzustellen: Das Baby konnte durch das Saugen des Kolostrums an der mütterlichen Brust seinen vorerst keimfreien Darm mit den mütterlichen Keimen und den dazu passenden Abwehrstoffen anreichern. Auch daran wird deutlich: Mutter und Kind gehören von Anfang an eng zusammen, denn es gilt die Regel: Wenn eine Fläche keimfrei ist, beherrschen die ersten Keime diese Fläche. Erhält das Baby andere Nahrung oder einen Nuckel mit fremden Keimen, hat es dagegen keinen ausreichenden Schutz. (Hier gibt Michel Odent eine mögliche Erklärung für die häufig beim Baby auftretenden Koliken – so etwas gab es früher auf Grund der vorherrschenden Hausgeburten scheinbar nicht. Dort erhielt das Baby keine Glucoseflaschen und fremde Nuckel und hatte über die Muttermilch alle Abwehrstoffe für die der mütterlichen Umgebung entstammenden Bakterien.)

 

Ist das enge Band der Liebe durch das altruistisch wirkende Hormon Oxytocin erst einmal geknüpft, wird in Zukunft auch das Stillen funktionieren und die Mutter stets bereit sein, auf die Signale, die ihr Baby aussendet, zu reagieren. Weil sie liebt, kann sie Opfer bringen, denn sie muss nun rund um die Uhr den neuen Erdenbürger begleiten. Schon ein Gefühl des Alleinseins wird dem Baby einen Kontakt- oder Suchruf entlocken und, falls dieser nicht beantwortet wird, in ein Schreien übergehen5. Bei der Mutter, die nun sensibilisiert ist für die Sprache ihres Babys, löst jeder Kummer des Neugeborenen Stress aus, wobei wieder Adrenalin ausgeschüttet wird, das sie nur abbauen kann, wenn sie ihr Kind ansieht und berührt, an ihrem Körper hat, stillt und trägt, bis das Kind zufrieden ist. Der Milchfluss wird durch das Liebeshormon Oxytocin hervorgerufen, das sich durch das Anschauen des Kindes nur in einer sicheren Atmosphäre bildet. Gleichzeitig sinkt der Adrenalinspiegel, und Entspannung bewirkt die verstärkte Produktion des milchbildenden Hormons Prolaktin. So wird bereits während des Stillens neue Milch gebildet. Das Prolaktin wirkt beruhigend und lässt die Mutter die unendliche Fürsorge und Geduld aufbringen, die das Kind in den ersten Lebensmonaten so dringend benötigt.

 

Vielleicht wird hier klar, wie viel leichter es eine stillende Mutter gegenüber einer Nichtstillenden hat, da die körpereigenen Hormone sie maßgeblich beim Bemuttern unterstützen6, 7, 8 Trotzdem benötigt die Mutter das Gefühl der Sicherheit bei der Geburt und beim Stillen, das durch Überlegungen und Vorhaben des Verstandes, also durch Einwirkungen des Großhirns erheblich gestört werden kann.

 

Bei der Betrachtung der ungestörten instinktiven Geburt des Menschen und des ungestörten Stillens als Voraussetzung für das weitere optimale Funktionieren der Mutter-Kind-Beziehung sind wir an dem philosophischen Punkt angekommen, wo wir vielleicht die Rolle des Menschen als Zerstörer der ursprünglich intakten und völlig optimal eingerichteten Erde, der Biozönose, verstehen. Kein anderes Lebewesen als der Mensch vernichtet absichtlich die Existenzgrundlage seines Lebensraumes!

 

Doch wir Menschen fangen schon bei der Geburt damit an (!):

 

Zu allen Zeiten und in nahezu allen menschlichen Kulturen wurde die wichtigste Bindungsphase zwischen Mutter und Kind – das In-die-Augen-Schauen – durch zahlreiche kulturelle oder Geburtspraktiken verhindert. Durch Rituale, Glaubensrichtlinien, schnelle Abnabelung, schnelle Taufe, sofortiges Einträufeln von Augentropfen, Ohrdurchstechen für Ohrringe bei Mädchen, durch Übergabe des Neugeborenen an den Stammeshäuptling oder eine wichtige weibliche Person, an die Hebamme, den Arzt und die Krankenschwester wurden und werden Mutter und Baby voneinander abgelenkt – zumindest fühlt sich die junge Mutter nicht ungestört. So gut sich die Teilnahme der Väter bei der Geburt eingebürgert hat, müssten doch wohl die Abläufe noch einmal überdacht werden, damit die Mutter eine sichere Bindung zum Kind aufbauen kann. Auch etwas später wäre noch genug Zeit, in der sich der Vater zu der Zweierbeziehung gesellt3.

Doch wo auf der Welt sind solche Geburtspraktiken möglich? Kulturen, die die Gemeinschaft von Mutter und Kind nach der Geburt nicht verneinen, sind inzwischen verschwunden. Es betraf vor allem das Zentrum von Afrika und den Amazonasraum. Diese Kulturen lebten in Harmonie mit dem Ökosystem, mit Respekt vor der Mutter Erde. Alle anderen Kulturen mit Trennungsbestrebungen von Mutter und Kind in den ersten Geburtsminuten zerstören die Erde, sie beherrschen die Natur durch ihre Zivilisation. Sie halten die Kontrolle der Erde für vorteilhafter als den Respekt vor ihr. Diese Kulturen entwickelten Fähigkeiten, Leben zu vernichten, und trugen zur Vernichtung der angepassten friedlichen Kulturen bei. In persönlichen Beziehungen zwischen Eltern und Kind herrschen ebenso kontrollierende Verhaltensweisen vor9. Wollen wir diese Aggressionspotenziale vermindern, müssen wir die erste Phase des Menschen fördern und damit seine Liebesfähigkeit! Sonst wird der Mensch weiter unseren Planeten zerstören.

 

So ist die Situation in unserer Welt. Man könnte meinen, diese Zusammenhänge müssten nur stärker erforscht und publiziert werden, um die Welt zu verbessern.

 

In der medizinischen, wirtschaftlichen und politischen Praxis sieht das aber gar nicht danach aus. Hier ist man bestrebt, so viel wie möglich künstlich zu regulieren. Man hat z. B. die Wirkung des Oxytocin als Wehenbeschleuniger erkannt und als milchflussanregendes Mittel eingeführt, doch werden die Sinnesorgane und das Gehirn dabei nicht tangiert, so dass die körpereigene Produktion des Oxytocins erschwert, vor allem aber das Entstehen der Liebe zwischen Mutter und Kind verhindert wird. Außerdem wird das Oxytocin auf natürlichem Wege pulsierend gebildet, bei künstlicher Anwendung durch den Wehentropf meist kontinuierlich.

 

So wies z. B. Kriebel 1987 nach, dass Schafe, die mittels Peridunalanästhesie entbunden wurden und einen Oxytocintropf bekamen, weder ihr Junges saugen ließen noch mütterliche Verhaltensweisen zeigten. Allerdings kann sich eine menschliche Mutter besser auf ihr Kind einstellen, da sie weiß, dass sie Mutter wird.

 

Auch die oft in Kliniken übliche Gabe schmerzhemmender Mittel unter der Geburt verhindert die Produktion körpereigener Endorphine mit der bereits dargestellten Kettenreaktion!

 

Wenn man bedenkt, dass  lt. Mr. Odent in den USA derzeit 50 % der Geburten mit Peridunalanästhesie durchgeführt werden, so drängt sich Goethes Moral der Geschichte des »Zauberlehrlings« auf: »Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.«

 

Verlust der Liebesfähigkeit einer ganzen neuen Generation? Und Verlust der primären gesundheitlichen Voraussetzungen, denn dafür sind intakte Mutter-Kind-Beziehungen notwendig. Zumindest werden Mütter, die selbst nicht gestillt wurden, erheb­lich mehr Schwierigkeiten auf diesen Gebieten bekommen, wie die Erfahrung bereits gezeigt hat.

 

Schon 1920 stellte man in Südafrika fest, dass das Chloroform, welches unter der Geburt zum Einatmen gegeben wurde, eine Störung mütterlichen Verhaltens nach sich zog. Ausschalten des Geburtsschmerzes behindert eben das Bemuttern.

 

Michel Odent sammelt und publiziert in seinem Forschungs­zentrum für Perinatalmedizin bzw. Primärgesundheit in London wissenschaftliche Studien zu Themen, die zeigen, dass der Lebensanfang, die Perinatalzeit, prägende Auswirkungen auf die Gesundheit und das Verhalten der Menschen hat.

 

Die in »British medical« 1990 veröffentlichte Studie des Schweden Jacobson zu möglichen Ursachen des Drogenkonsums Jugendlicher war ausgezeichnet angelegt: Es wurden 200 drogenabhängige Jugendliche sowie 200 nicht süchtige Geschwister dieser Abhängigen darauf untersucht, ob ihre Mütter unter der Geburt Opiate erhalten hatten. Dabei wurde eine Verbindung zwischen Lachgas und späterer Drogenab­hängigkeit signifikant festgestellt. Die Studie wurde dem schwedischen ethischen Komitee vorgelegt10.

 

1991 hat die japanische Ärztin Hattori autistische Kinder auf ihre Vorgeschichte hinsichtlich Krankenhausgeburten untersucht. Sie stellte fest, dass gerade bei diesen Kindern die Geburt eine Woche vor Termin eingeleitet wurde unter Verwendung von Valium oder Gas11. Daraufhin wurde ihr von ihrer Universität gekündigt! 1998 wird in Tokio die erste »Primal health«-Konferenz stattfinden, um weitere Gemeinsamkeiten zwischen Geburt und späterem Leben aufzudecken.

 

In seinem Buch »Von Geburt an gesund« erklärt Michel Odent den Zusammenhang zwischen unzulänglichen Startbedingun­gen der Neugeborenen und den Zivilisationskrankheiten wie z. B. Krebs, Neurodermitis, Asthma, Herzinfarkt, Süchten, Zuckerkrank­heit, Depressionen u. v. m. Wie man den Thermostaten einer Heizung richtig einstellt, damit die Heizung später ordnungsge­mäß arbeiten kann, so stellen sich die adaptiven Systeme in der perinatalen Zeit ein. Treten dabei Störungen auf wie z. B. Angst des Neugeborenen, wenn es fern von der Mutter ist und vielleicht noch durch fremde Personen untersucht wird, wie es meist bei Klinikentbindungen der Fall ist, oder es auf sein Schreien keine Antwort bekommt, dann gerät es unter Stress bis hin zu Panik bzw. Todesängsten. Nicht umsonst haben Menschen die Begriffe geprägt wie »um sein Leben schreien«, »sich die Seele aus dem Leib schreien«. In diesen Situationen ist sehr viel Adrenalin im Blut, Stresshormone, die nur in Anwesenheit der vertrauten Stimme und des vertrauten Herzschlags der Mutter vollständig abgebaut werden können. Sind sie nun im ungünstigen Fall lange erhöht, stellen sich alle anderen Systeme darauf ein. Der kleine Körper bewertet diese Situation im neuen Leben als das »Normale«, so dass dadurch gleichsam eine »Prägung« des gesamten Stoffwechsels entstehen kann.

 

Michel Odent hebt hierbei besonders einen dauerhaft zu niedrigen Prostaglandine I- Spiegel hervor, was die Zivilisationskrankheiten begünstigt.

 

Die Menschen in den Zivilisationen haben tendenziell weniger gesundheitsfördernde Hormone wie Endorphine, was das Entgleisen ihrer Körperfunktionen begünstigt.

Die Kulturen in der Zivilisation sind überaltert und dekadent, Krank­­­­heiten wie Herzinfarkt, Diabetes, Psychosen und Depressionen, Perversitäten nehmen überhand – sie sind aufgerufen, ihre Mutter-Kind-Beziehungen zu überdenken.

Darin liegt aber gerade das Problem: Weil die Kindheit überschattet war mit bedrohlichen Trennungsängsten, Ängsten vor Liebesverlust ihrer engen Bezugspersonen, fällt es diesen Menschen besonders schwer, die Situation zu erkennen und Veränderungen zuzulassen. Denn der einzige Schutz, diesen Schmerz als Erwachsener niemals wieder zu spüren, ist die Verdrängung (verhaltensbiologisch als Denkhemmung bezeichnet 12) und das Nicht-wahr- haben-Wollen unserer Lage in dieser Welt. Die Welt ist vom Liebesverlust bedroht!

 

Was können wir tun? Gerade in der heutigen Zeit sind eigentlich auch die Voraussetzungen für eine bewusste Erkennung dieser Gesetzmäßigkeiten gegeben, und begonnen werden kann damit, dass die Menschen lernen, bewusst entspannungs­förderndes Verhalten in ihren Alltag zu integrieren12. Das fällt vielen umso schwerer, je mehr sie davon geprägt wurden, sich durch Leistung und Aufopferung Liebe verdienen zu müssen. Um seiner selbst Willen geliebt zu werden, ist den meisten ziemlich unbekannt 13. Hier helfen entsprechende Seminare und Therapien, Massagen, Lachen, Pflege des eigenen Gesangs und der Kreativität in künstlerischen Bereichen, vernünftige sportliche Betätigung13, das Erlernen von Entspannungstechniken und Aufarbeiten der eigenen Kindheit noch vor der eigenen Familienplanung, um Fehler, die im Elternhaus oft unwissentlich und völlig unbeabsichtigt gemacht wurden, nicht zu wiederholen14.

 

Helfen wir uns bei diesem anspruchsvollen, aber lebensnotwendigen Weg gegenseitig!

 

Die Autorin:

Antje Kräuter, Mutter von drei Kindern, Dipl. Psychologin, Stillberaterin, seit 19 Jahren intensive Beschäftigung mit dem Studium der frühen Kindheit sowie reichhaltige praktische Erfahrung in der Mütterberatung und Kursleitung.
Ihr Angebot umfasst Vorträge und Kurse für Entbindungskliniken und werdende Eltern und Angehörige sowie Sprechstunden zu folgenden Themen: Babyschreien und Schlafprobleme, Stillfragen und Essstörungen, Entwicklungsfragen und Erziehungsschwierigkeiten bei Säuglingen und Kleinkindern.
Außerdem Entspannungsangebote für gestresste Mütter und Schwangere sowie Kurs der Krankenkassen "Stressfrei ins Familienglück" für werdende Eltern.

 

Kontaktadresse:

Antje Kräuter
Gartenstadt 12
09128 Chemnitz
Tel. und Fax: (03 71) 77 25 51
E-Mail
: antje.kraeuter@t-online.de

 

Literatur:

  1. Odent, Michel (1989) Von Geburt an gesund. München: Kösel.
     
  2. Odent, Michel (1994) Primal Health Research. Vol.Nr.4, Primal Health Research Centre, London.
     
  3. Odent, Michel (1994) Geburt und Stillen. München: Beck’sche Reihe.
     
  4. La Leche Liga : Handbuch für die stillende Mutter.
     
  5. Hassenstein, B. (1979) Biologisch bedeutsame Vorgänge in den ersten Lebenswochen. In: Geburtshilfe und Kinderheilkunde, Symposium Bad Kreuznach.
     
  6. La Leche Liga – Merkblatt „Die besondere Beziehung der stillenden Mutter zu ihrem Kind“.
     
  7. Newton, N. (1973). Interrelationships between sexual responsiveness, birth and breastfeeding behavior. Critical Issues in Contemporary Sexual Behavior. (Ed. Sublin, J.) Johns Hopkins Press.
     
  8. Pederson, C. A. & Prange, J. R. (1979). Induction of maternal behavior in virgin rats after intracerebroventricular administration of oxytocin. Proc. Natl. CAD: Sci. USA, 76.6661.
     
  9. Gordon, Th. (1989). Die neue Familienkonferenz. München: Heyne.
     
  10. Jacobson, B.; Nyber, K.; Grönlabh, L. et al.(1990). Opiate addiction in adult offspring through possible imprinting after obstetric treatment. BMJ 1990, Vol.301, 19067-70.
     
  11. Hattori, R. et al. (1991). Autistic and developmental disorders after general anesthetic delivery. Lancet, June 1, 337, 1357-8.
     
  12. Hassenstein, B. (1987). Verhaltensbiologie des Kindes. München: Piper.
     
  13. Jaschke, H. Böse Kinder – böse Eltern?. Edition Psychologie und Pädagogik bei Grünewald.
     
  14. Daco, P. (1997). Psychologie für jedermann. Landsberg am Lech: mvg-Verlag.

 

© Antje Kräuter, 2003