Erziehung

 

Wir sind wahrscheinlich noch Lichtjahre davon entfernt, die vor über 30 Jahren formulierten Worte von Alice Miller als Binsenweisheit für den Erziehungsalltag mit unseren Kindern aufzufassen: „Das Kind muss die Freiheit haben, uns Grenzen zu setzen, wenn wir es überfordern, schlecht behandeln, demütigen“ (zitiert aus Das verbannte Wissen, Alice Miller). Die herkömmliche, überall verbreitete Auffassung über Kindererziehung ist genau umgekehrt: Wir sollen unseren Kindern Grenzen setzen, damit sie einmal gute, anständige Menschen werden. Dass wir aber meinen, genau dort Grenzen setzen zu müssen, wo wir selbst durch unser ignorantes, übergriffiges Verhalten das missbilligte Verhalten unserer Kinder verursacht haben, bleibt dem Bewusstsein regelmäßig verborgen. Deshalb ist Kindererziehung eine bloße Frage der Macht. Derjenige, der die Macht besitzt, statuiert, was gut oder schlecht ist. Und diese Statuten erschöpfen sich aus dem Unterbewusstsein des Mächtigen, der seine einstige Ohnmacht in der frühen Kindheit mit seiner gegenwärtigen Grandiosität ausgerechnet gegenüber seinem noch völlig abhängigen Kind vergessen machen will

 

Erst wenn die einstige Ohnmacht in der Kindheit und die damit verbundenen abgespaltenen Gefühle des qualvollen Schmerzes gefühlt werden können, deren Leugnung uns zu machthungrigen, empathielosen Menschen machen, kann der Teufelskreislauf der destruktiven Meinungen und Handlungen durchbrochen werden. Dann können sich die Gefühle endlich frei ausdrücken und „durch das Erlebnis der blockierten Schmerzen das ehemals misshandelte Kind aus der Isolation befreit werden. Das Kind, das niemanden etwas Böses antun wollte, als es zur Welt kam. Das Kind, das lieben wollte, aber niemanden fand, der ihm das ermöglichte. Es fand nur überall Stacheldraht und Mauern und glaubte, dies sei die Welt. Als es groß wurde, baute es gigantische Welten voll Mauern und Stacheldraht oder aber komplizierte philosophische und psychologische Systeme, immer noch in der Hoffnung und Erwartung, dafür Liebe zu bekommen, die es bei den Eltern, als es ein ‚unwertes Leben’ war, niemals bekommen hatte. Das so genannte ‚böse Kind’ wird zum bösen Erwachsenen und schafft später eine böse Welt. Das geliebte Kind wird eine andere Welt schaffen, denn unser biologischer Auftrag heißt, menschliches Leben zu beschützen und es nicht zu zerstören“ (zitiert aus Das verbannte Wissen, Alice Miller).

 

Die wenigsten von uns können auf eine glückliche Kindheit zurückschauen. Auch wenn die spärlichen Erinnerungen das idealisierte Bild der glücklichen Kindheit hervorrufen, sind solche Erinnerungen meistens meilenweit von der Wirklichkeit entfernt. Die Abspaltung unserer authentischen Gefühle blockiert unser Gedächtnis für das tatsächlich erfahrene Leid, als wir noch völlig abhängig von unseren Eltern waren. Fatalerweise ist das zugleich der Beginn des Einfühlungsmangels in das Leiden anderer und in das eigene.