"Warum es keinen harmlosen Klaps gibt", ein Manifest von Alice Miller

Es gibt wenige Erkenntnisse der letzten zwanzig Jahre, die so gesichert sind, wie die Erkenntnis, daß das, was wir dem kleinen Kind zufügen, im Guten wie im Schlechten, zu seinem späteren Verhaltensrepertuar gehören wird. Geschlagene Kinder lernen schlagen, gestrafte Kinder lernen strafen, belogene Kinder lernen lügen, beschützte Kinder lernen zu beschützen, respektierte Kinder lernen, Schwächere zu respektieren. Es ist bereits bewiesen, daß körperliche Strafen zwar am Anfang zum Gehorsam führen, aber später u.a. aggressives Verhalten, Lernschwierigkeiten, oder gar Drogensucht und Suicid verursachen, wenn keine aufgeklärten oder zumindest helfenden Zeugen diese Entwicklung verhindern konnten. Hitler, Stalin, Mao und andere Tyrannen hatten als Kinder keine solchen Zeugen. Sie lernten sehr früh, Grausamkeit "zu deinem besten" zu verherrlichen und haben später Millionen Menschen umgebracht. Und Millionen, die auch im Terror erzogen worden waren, halfen ihnen dabei. Wir müssen uns daher unbedingt bemühen, ein Gesetz, das das Schlagen der Kinder eindeutig verbietet, in den großen europaischen Ländern so rasch wie möglich durchzusetzen. Es soll eine protektive und informative Funktion für die Eltern haben und nicht eine kriminalisierende. Eltern, die das Gesetz mißachten sollten, könnten dazu verpflichtet werden, sich die ihnen vom Gericht ausgehändigten Informationen über die Folgen der körperlichen Strafen anzueignen, genau wie ein Autofahrer vom Staate dazu verpflichtet ist, die Verkehrsregeln zu kennen. Wie bei der Straßenverkehrsordnung geht es beim Schlageverbot nicht ausschließlich um das Wohl der einzelnen Kinder und einzelner Familien, sondern um die vitalsten Interessen der ganzen Gesellschaft. Daher müssen Informationen über die schädigende Wirkung der "guten Klapse" in Schwangerschaftskursen, Säuglingsberatungen, Schulen und an möglichst vielen anderen Stellen frühzeitig vermittelt werden. Denn die unbewußte, ahnungslose Erziehung zur Gewalt beginnt sehr früh und ist oft ein Leben lang wirksam. Die Behauptung, daß milde Strafen - Klapse - keine negative Wirkung hätten, ist noch weit verbreitet, weil wir diese Meinung sehr früh übernommen haben. Doch der Schaden zeigt sich gerade in der weiten Verbreitung dieser Behauptung, die Jahrtausende hindurch dazu geführt hat, daß jede nächste Generation ebenfalls geschlagen wurde und dies für normal, notwendig und richtig erachtete. Sie fand es in Ordnung, daß es verboten war, Erwachsene anzugreifen, nicht aber ein hilfloses Kind. Menschen, die noch heute körperliche Strafen für Kinder propagieren, verleugnen die eigenen schmerzhaften Erfahrungen und sind sich nicht darüber im Klaren, daß sie Kinder als erlaubte Ventile benutzen. Nur ein neues Gesetz kann diesem verhängnisvollen Brauch ein Ende setzen. Als das Gesetz über das Verbot körperlicher Strafen 1977 in Schweden lanciert wurde, waren noch 70% der befragten Bürger dagegen. Bei den letzten Befragungen, 20 Jahre später, waren es nur noch 10%, die an der gewaltsamen Erziehung festhielten. Diese Statistik zeigt, daß sich innerhalb von nur 20 Jahren die Mentalität der Bevölkerung stark geändert hat. Eine destruktive Tradition, die Jahrtausende lang geehrt und praktiziert wurde, konnte mit Hilfe der neuen Gesetzgebung abgelegt werden. Warum sollte dies nicht auch anderen demokratischen Staaten gelingen?

 

© Alice Miller, 1997